Felix Sassmannshausen

Freier Journalist und Politikwissenschaftler

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Linke im Abseits

Mark Rutte hat es wieder geschafft. Seine marktliberale Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) ist bei den niederländischen Parlamentswahlen vergangene Woche mit knapp 22 Prozent der Stimmen erneut stärkste Kraft geworden. Rutte ist mit der Bildung ­einer Regierungskoalition beauftragt und wird voraussichtlich seine vierte Amtszeit als Ministerpräsident beginnen - obwohl erwartet worden war, dass einer der größten politischen Skandale der jüngeren niederländischen Geschichte, den seine Regierung zu verantworten hatte, das Ergebnis beeinflussen würde.

Der Sieg von D66 und VVD spricht für wirtschaftspolitische Kontinuität - obwohl zwei Drittel der Wählerinnen und Wähler die ökonomische Ungleichheit für eines der zentralen Probleme der Niederlande halten.

Rutte hatte sich am 15. Januar auf seinem Fahrrad auf den Weg vom ­Regierungssitz Binnenhof zum Palast Noordeinde machen müssen. In der ­Residenz des niederländischen Königs Willem-Alexander reichte er seinen Rücktritt und den seines Kabinetts ein. Seitdem war seine Regierung nur noch kommissarisch im Amt. Auslöser war die sogenannte Toeslagenaffaire (Kindergeldaffäre): Mehr als 20 000 Eltern waren von der niederländischen Steuerbehörde des Betrugs verdächtigt worden. Betroffen waren vor allem migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter, die mit existenzbedrohenden Rückforderungen bis zu 10 000 Euro konfrontiert waren. Rutte gelang das politische Kunststück, Verantwortung zu übernehmen, ohne dass dies die VVD Stimmen gekostet hätte. Sie konnte sogar einen halben Prozentpunkt und zwei Sitze im Vergleich zur Wahl 2017 dazugewinnen.

Enttäuscht wurden die Hoffnungen der linken Parteien, die im parlamentarischen Untersuchungsausschuss an der Aufklärung der Toeslagenaffaire maßgeblich beteiligt waren. Sie waren die Verlierer bei den jüngsten Wahlen. Wie die sozialdemokratische Partij van de Arbeid (PvdA) vermochte es auch die Sozialistische Partei (SP) nicht, ein klares Profil zu entwickeln. In der Covid-19-Pandemie traten plötzlich auch die liberalen Parteien für höhere Staatsausgaben ein, dadurch bekamen die beiden linken Parteien bei einem ihrer angestammten Themen viel Konkurrenz. Die PvdA stagniert mit 5,7 Prozent auf niedrigem Niveau; die SP erreichte 6,1 Prozent, sie verlor ein Drittel der Stimmen und fünf Sitze.

Noch etwas größer waren die Verluste von Groen-Links, deren Stimmenanteil von 9,1 auf 5,1 Prozent sank. In ökonomischen Fragen ist die Partei mit ähnlichen Problemen wie PvdA und SP konfrontiert. Zudem litt die von Jesse Klaver geführte Partei unter wachsender Konkurrenz in Sachen Geschlechter-, Europa- und Klimapolitik. Der Kampf um die Stimmen liberaler, kosmopolitischer Wählerinnen und Wähler wurde durch die zunehmende Fragmentierung des Parteienspektrums heftiger. Groen-Links verlor Stimmen von Klimaschützern an die in dieser Hinsicht ­radikalere Partij voor de Dieren (Partei für die Tiere), in der Europapolitik ­erschien vielen die liberale Neugründung Volt und die linksliberale D66 ­attraktiver.

Um die Stimmen der Linken konkurrierte auch die Partei BIJ1, die mit 0,8 Prozent der Stimmen erstmals im Parlament vertreten ist. Die Partei der Fernsehmoderatorin Sylvana Simons begreift sich als ­intersektional, antirassistisch, feministisch und antikapitalistisch. Simons gehörte zuvor der Partei Denk an, die sich primär als antirassistisch versteht und mit zwei Prozent etwa so viele Stimmen wie 2017 erhielt. Denk steht außenpolitisch der türkischen AKP nahe und vertritt insbesondere in sexual- und geschlechterpolitischen Fragen konservative Standpunkte. Wegen der Differenzen in solchen Fragen hatte Simons die Partei im Jahr 2016 verlassen und BIJ1 gegründet, für die sie von 2018 bis 2020 im Amsterdamer Stadtrat saß. Trotz ihrer Differenzen stimmten die Parteien 2018 gemeinsam gegen den Amsterdam Joods Akkoord, einen Beschluss, mit dem der Stadtrat die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance annahm. Eine Gewinnerin der Wahlen ist mit einem Stimmenanteil von 15 Prozent (2,8 Prozentpunkte mehr als 2017) D66 mit der Außenhandelsministerin Sigrid Kaag an der Spitze. Die Partei steht wie keine andere für gesellschaftliche Liberalisierung und engagiert sich für die gleichgeschlechtliche Ehe ebenso wie für Umweltfragen. Obwohl sie in ökonomischer Hinsicht lange Zeit eine Zweckallianz mit der Sozialdemokratie gepflegt hatte, bewegte sie sich auch bedingt durch die Krise der PvdA in den vergangenen Jahren immer weiter auf die VVD zu. Mit dieser sowie zwei christdemokratischen Parteien hatte sie seit 2017 eine Koalitionsregierung gebildet.

Der Sieg von D66 und VVD spricht für wirtschaftspolitische Kontinuität - obwohl dem Umfrageinstitut Nipo zufolge zwei Drittel der niederländischen Wählerinnen und Wähler die ökonomische Ungleichheit im Land für eines der zentralen Probleme halten. Ob es sich, wie in vielen Medien behauptet, um einen Triumph des Liberalismus in den Niederlanden handelt, ist zweifelhaft.

Rutte rühmte sich im Wahlkampf damit, dass aus Syrien 90 Prozent weniger Geflüchtete als noch in den Vorjahren in die Niederlande kämen. Das könnte Geert Wilders rechte Partij voor de Vrijheid (PVV) Stimmen gekostet haben: Sie kam auf 10,8 Prozent (2017: 13,1 Prozent) und verlor drei Sitze, doch nationalistische bis extrem rechte ­politische Parteien konnten insgesamt zulegen.

Als große Gewinnerin der Wahl kann die extrem rechte Partei Forum voor Democratie um Thierry Baudet gelten, die fünf Prozent der Stimmen erhielt. Mit einem Stimmenzuwachs von 3,2 Prozentpunkten im Vergleich zu den Wahlen von 2017 verbucht sie den größten Zugewinn aller Parteien und gewann sechs zusätzliche Sitze. Sie hat es geschafft, sich zum parlamentarischen Arm der Proteste gegen die ­Coronamaßnahmen der Regierung zu stilisieren. Im November vergangenen Jahres hatte sich ein großer Teil der Partei im Zuge eines Streits über Antisemitismus bei Baudet und im Jugendverband abgespalten (Jungle World 49/2020). Das hat der Partei jedoch dank Mobilisierung von Verschwörungsgläubigen gegen die Pandemiepolitik nicht geschadet.

Aus der Abspaltung ist die Partei JA21 hervorgegangen, die sich als "fatsoen­lijk rechts" (vernünftig rechts) darstellt und als neue "konservative" Kraft knapp 2,4 Prozent der Stimmen und drei Sitze gewann. Sie hat vormalige Wähler und Wählerinnen der PVV und der seit Jahren kriselnden christlich-konservativen CDA für sich gewonnen. Daher muss vor allem die nationalistische und extreme Rechte als Gewin­nerin der Wahl gelten. Es ist fraglich, ob die liberalen Parteien ihre nun bestätigte Vormachtstellung auch in der durch die Pandemie verschärften Krise des Kapitalismus halten können.

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