In Deutschland sind alle Schulen wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Doch der Unterricht soll weitergehen – digital aus der Ferne! Der Schulstoff kommt nun meist per Mail.
Während die meisten Schüler bereits mit Smartphone und Co. aufwachsen, ist die Digitalisierung an Deutschlands Schulen oft nicht weit fortgeschritten, wie die letzte PISA-Untersuchung zeigt. Nur einer von fünf Schülern nutzt demnach digitale Geräte im Unterricht. Und: Nur 40 Prozent der Schulleiter halten die Anzahl der Geräte in Schulen für angemessen.
► Das könnte sich laut Bildungsexperte Professor Axel Plünnecke nun rächen, während die Schulen geschlossen sind. Und zwar würden besonders Kinder betroffen, deren Eltern keine höhere Bildung genossen haben. Im Gespräch mit BILD sagt er: „Schon bestehende Probleme bei der Bildungsgerechtigkeit drohen, sich deutlich zu verschärfen.“
So steht es um die Digitalisierung an Schulen
Professor Axel Plünnecke ist Leiter des Bildungsressorts am Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln (IW). Auf Anfrage von BILD erklärt er: „Die digitale Ausstattung der Schulen und die Kompetenzen der Lehrkräfte unterscheiden sich sehr stark zwischen den Schulen.“
Das IW hat die letzte PISA-Untersuchung aus dem Jahr 2018 ausgewertet. Diese wird alle drei Jahre wiederholt, die nächste steht im Jahr 2021 an. Das Ergebnis: Nur ein Fünftel der Schüler nutzen gemeinsam mit den Lehrern digitale Geräte im Unterricht. In vielen anderen Ländern, wie Dänemark, sind Schüler und Lehrkräfte hier schon viel weiter.
Der Bildungsexperte Andreas Schleicher von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), von der die PISA-Studien durchgeführt werden, stellte BILD auf Anfrage zusätzliche Daten zu Schülern aus der 9. und 10. Klasse zur Verfügung.
Sie zeigen: Auch viele Schulleiter sind mit der Digitalisierung an Schulen sehr unzufrieden:
- Nur 40 Prozent der Schulleiter in Deutschland halten die Anzahl der Online-Geräte an ihren Schulen für ausreichend (Durchschnitt der Länder: 67 Prozent. Slowenien und Singapur: über 90 Prozent).
- Nur 32 Prozent der Schulleiter halten die Bandbreite des Online-Zugangs in ihren Schulen für ausreichend (Durchschnitt der Länder: 68 Prozent. China: 95 Prozent).
- Lediglich 57 Prozent der Schulleiter halten die Kompetenzen ihrer Lehrkräfte in Bezug auf Digitaltechnik für ausreichend (China: über 90 Prozent).
- Nur 41 Prozent der Schulleiter halten die Ressourcen für die Weiterbildung der Lehrkräfte für angemessen. Auch hier liegt Deutschland unter den 79 Ländern mit vergleichbaren Daten auf dem drittletzten Platz.
So läuft der Unterricht nun ab
„Die Lehrkräfte unterstützen die Schülerinnen und Schüler durch Mails mit Aufgaben, Arbeitsblättern und Lehrmaterialien“, erklärt der IW-Experte Plünnecke. Das Problem sei, dass sich die Umsetzung und das Ausmaß an Lehrstoff von Schule zu Schule stark unterscheide. „Es kann in dieser Notsituation auch keine abgestimmten und ausgereiften Lehrkonzepte geben.“
Wie unterschiedlich die Konzepte der einzelnen Schulen und Lehrer sind, zeigen zwei Abiturientinnen, die BILD zu ihrem Corona-Unterricht befragte:
► Lucia (17) aus Hessen erklärt, dass wegen des Schulausfalls schnell eine Cloud eingerichtet wurde. „Allerdings funktionieren da auch viele der Zugänge nicht. Und zumindest in meinem Fall wird sie von einem meiner Lehrer überhaupt genutzt. Außerdem werden die Aufgaben dort in 80 Prozent der Fälle abfotografiert, statt sie als PDF-Dateien zur Verfügung zu stellen.“
► Hanna (19) aus Bayern nennt die aktuelle Zeit „Corona-Ferien.“ Sie bekommt Unterlagen über Email-Verteiler zugeschickt – „was ganz o.k. klappt, wenn auch mit Problemen und Einschränkungen.“ Und: „Wir hatten heute das erste Mal eine Videokonferenz mit unserem Mathelehrer.“ Dieser sei jedoch „der einzige Lehrer, der das macht an unserer Schule.“
Bei diesen Schülern leidet die Bildung besonders
„Es leidet vor allem die Bildung von Kindern aus bildungsfernen Haushalten. Schon bestehende Probleme bei der Bildungsgerechtigkeit drohen sich deutlich zu verschärfen“, sagt Plünnecke.
Alarmierend: Wie die PISA-Studie zeigt, hat der Zusammenhang zwischen den Lesekompetenzen der Schülerinnen und Schüler und dem sogenannten sozioökonomischen Hintergrund wieder zugenommen, nachdem es in den Jahren davor Fortschritte gab.
► Durch die Schulschließungen verschärft sich nun die Situation, sagt Plünnecke:
- Keine Förderung bei geschlossenen Kitas: „Eigene Berechnungen auf der Basis des PISA-Datensatzes 2018 zeigen, dass der Kita-Besuch einen deutlich positiven Einfluss auf die PISA-Kompetenzen hat.“ Nicht alle Kinder würden zu Hause gleich viel gefördert.
- Eltern können unterschiedlich stark bei Bildung unterstützen: Wie gut die Eltern ihre Kinder beim Lernen unterstützen können, hänge von ihrer Bildung und Zeit ab. So könnten „Eltern mit einem akademischen Hintergrund ihre Kinder öfter bei den Schulaufgaben unterstützen.“ Kinder ohne diesen Vorteil stünden nun im Regen.
- Digitale Kompetenzen unterscheiden sich: Es gibt viele ausgefeilte Lernmöglichkeiten, wie Arbeitszettel, Materialien oder digitale Angebote, wie Lerntools oder Erklärvideos. Doch: „Hier besteht eine weitere Quelle der Bildungsungleichheit.“ Die einzelnen Haushalte sind unterschiedlich mit digitalen Geräten ausgestattet. Und: „Die digitalen Kompetenzen der Jugendlichen unterscheiden sich wiederum stark nach dem sozioökonomischen Hintergrund.“
Digitales Können sei später auch „aus ökonomischer Sicht von zentraler Bedeutung“. Denn: „Digitale Kompetenzen werden im Berufsleben immer wichtiger.“
Wie könnte das Problem gelöst werden?
Plünnecke fordert einen Drei-Punkte-Plan, der die Situation verbessern soll:
- „Für die Zeit nach den Osterferien müssen bundesweite Konzepte erarbeitet werden, um insbesondere Kinder aus bildungsfernen Haushalten besser zu fördern.“
- „Für die Umsetzung vor Ort sollten Chancen-Beauftragte in den Schulen ernannt und qualifiziert werden.“
- „Zudem sollte bei Wiederaufnahme des Unterrichts ein spezieller Förderunterricht angeboten werden, um entstandene Rückstände besser aufholen zu können.“
Auch Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (48, CDU) sieht offenbar das Digitalisierungs-Problem der Schulen: Digitale Formen des Unterrichts sollten „jetzt zügig stark ausgeweitet werden.“ Ihr Ministerium möchte im Rahmen des „Digitalpakts Schule“ 100 Millionen Euro bereitstellen.
Das sagen Abiturientinnen
► Hanna (19) aus Bayern stellt fest: „Ich würde meine Schule nicht als wirklich digital einschätzen. Wir haben zwar Beamer und Dokumentkameras in jedem Klassenzimmer – aber, der Rest ist katastrophal!“
„Ich fühle mich bis jetzt nicht gut auf das Abitur vorbereitet!“, sagt sie. Dieses soll sie voraussichtlich ab dem 20. Mai schreiben. „Von unserem Deutschlehrer hören wir gar nichts. Und unser Mathelehrer gibt sich zwar Mühe, aber reichen wird das fürs Abi sicher nicht.“ Nur für Nebenfächer und Fremdsprachen fühle sie sich bereit.
► Auch Lucia (17) aus Hessen sagt: „Ich denke, es geht immer schlimmer, aber wirklich gut ausgerüstet sind wir nicht.“ Ein Beispiel: „Eine meiner Lehrerinnen zeigt uns konsequent nur Filme, die als VHS verfügbar sind.“
Sie selbst habe keine Sorge vor dem Abitur gehabt, das ab dem 19. März anstand. Doch sie kenne einige Schüler, die „jetzt ziemlich aufgeschmissen sind, weil sie ihre Lehrer bei Fragen teilweise nicht einmal per E-Mail kontaktieren können, weil eh keine Antwort zurückkommt.“ Einige Lehrer hätten jedoch ihre Nummern vergeben und seien immer erreichbar. Videounterricht, in anderen Ländern oft üblich, sei nie Thema gewesen.
Als Lösung schlägt Lucia „verpflichtende Lehrerfortbildungen zum Thema Digitalisierung“ und ein Digitalfach für Schüler vor, die auch oft Probleme mit Digitalem hätten.
Zum Original