Felix Koltermann

Kommunikationswissenschaftler/Kulturjournalist, Hannover

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Artikel

Verschobene Bedeutungslinien

Stereotypes Bildrepertoire im israelisch-palästinensischen Konflikt

Am 27. September 2012 erschien auf Seite 8 der Süddeutschen Zeitung (SZ) unter dem Titel »Ganz unten auf der Agenda« ein Artikel des Nahost-Korrespondenten Peter Münch. Gemeint war damit der so genannte Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern, der zu diesem Zeitpunkt wieder einmal am Boden lag. Beide Seiten standen sich auf der gerade stattfindenden Vollversammlung der UN in New York recht unversöhnlich gegenüber.

Interessant war vor allem die Bebilderung des Artikels. Auf dem am unteren Textrand platzierten, querformatigen Bild sind vier junge Männer im Abendlicht und unter Rauchschwaden zu sehen, die Steine werfen. Es ist ein klassisches Motiv aus dem stereotypisierten Bildrepertoire des israelisch-palästinensischen Konflikts. Stutzig machte vor allem die Bildunterschrift »Vom Ziel eines eigenen Staates weit entfernt: Palästinenser werfen Steine auf israelische Sicherheitskräfte«. Ließe sich aus dem kurzen Text noch vermuten, der im Bild dargestellte Protest habe sich vielleicht auf das im Text beschriebene Ereignis bezogen, so ergab eine Recherche der Bildquelle, dass dem nicht so war.

Aus dem Kontext gerissen

Das von der SZ publizierte Bild stammt vom katalanischen Fotografen Bernat Armangué 1, der dieses im Auftrag der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) produzierte. In der Bilddatenbank von AP ist es leicht nachzurecherchieren, inklusive der von Fotograf und Agentur erstellten, digital hinterlegten Bildunterschrift. Das Bild war bereits neun Tage vor dem Erscheinen des Artikels entstanden, also am 18. September 2012. Es zeigt tatsächlich palästinensische Jugendliche in einer Auseinandersetzung mit israelischen Sicherheitskräften, und zwar im Ost-Jerusalemer Flüchtlingslager Shuafat. Auslöser der Proteste war jedoch ein völlig anderes Ereignis: Sie entzündeten sich an der Veröffentlichung des anti-islamischen Films »Innocence of Muslims« in den USA. Dies wird in der Bildunterschrift von AP ausführlich kontextualisiert.2 Insgesamt veröffentlichte AP 13 Bilder des Fotografen zu diesem Ereignis.

An dem hier skizzierten Beispiel aus der Praxis der SZ-Bildredaktion werden Probleme und Schwierigkeiten deutlich – und darüber hinaus handwerkliche Fehler –, die aus der Kontextualisierung von Fotografie entstehen können. Darüber hinaus zeigt sich hier exemplarisch ein Funktionswandel der journalistischen Fotografie von der Produktion über die Distribution bis zur Publikation. In diesen Bereichen werden der Fotografie jeweils andere Funktionen zugeschrieben und es wird deutlich, dass unterschiedliche AkteurInnen in den Prozess der Bildkommunikation involviert sind.

Bild und Text

Um diesen Prozess genauer zu betrachten, ist der Rückgriff auf ein einfaches Modell zur Analyse von Fotografien hilfreich. Der amerikanische Kunsthistoriker Andrew Mendelson hat es entwickelt und »socio-historical model of photographic meaning« genannt.3 Primär unterscheidet er dabei zwischen dem Kontext der Produktion und dem Kontext der Präsentation. Im Kontext der Produktion findet der fotografische Akt statt, in dem sich Fotograf und Subjekt begegnen. Aus dieser Begegnung entsteht eine Fotografie als ein statisches Abbild einer spezifischen Situation. Die Fotografie steht an der Schnittstelle zwischen dem Produktions- und dem Präsentationskontext und ist in beiden Feldern verortet.

Im Kontext der Präsentation wird der Fotografie von den BetrachterInnen eine Bedeutung zugeschrieben. Diese hängt unter anderem von der Kontextualisierung des Fotos ab, also ob das Bild in einem journalistischen, werblichen oder künstlerischen Kontext veröffentlicht wurde. Alle AkteurInnen in diesem Modell – Subjekt, FotografIn und BetrachterIn – sind geprägt von ihren individuellen Erfahrungen sowie kulturellen und sozialen Hintergründen, welche die Arbeit selbst sowie die Rezeption beeinflussen. Mendelsons Modell ist insofern dankbar, als dass es ermöglicht, zwischen der Fotografie als Produkt einer sozialen Interaktion und dem Produktions- und Präsentationskontext zu unterscheiden und damit unterschiedliche Ebenen herauszuarbeiten, auf denen der Fotografie jeweils andere Bedeutungen zugeschrieben werden.

Was heißt dies nun für das Beispiel aus der SZ? Betrachten wir zunächst den Kontext der Produktion: Konstitutiv für die Entstehung des Bildes ist die Anwesenheit des Fotografen bei den Protesten im Flüchtlingslager Shuafat. Armangué wurde dorthin in Absprache mit seiner Bildredaktion mit dem Auftrag entsandt, dieses Ereignis in Bildern festzuhalten. Oft entstehen bei solchen Aufträgen mehrere Dutzend Bilder. In der Regel speisen die Fotografen danach sechs bis zehn Bilder in die Agenturdatenbank ein, die ein Ereignis aus verschiedenen Perspektiven wiedergeben.

Neben der Fotografie als visuellem Dokument sind die Bildunterschrift sowie die dem Bild zugeordneten Schlagwörter zentral. Sie ermöglichen die Zuordnung des Bildes zu einem geografischen Ort und einem spezifischen Ereignis. Die Bildunterschrift gibt in der Regel Antwort auf die fünf W’s des Journalismus: Wer, Was, Wo, Wann und Wie? Damit werden klassische journalistische Kriterien der Kontextualisierung und der Information erfüllt. Mit diesen Informationen ist es beispielsweise möglich, den Kontext des Ereignisses nachzurecherchieren und zu überprüfen. Für die FotografInnen und die Agentur ist die Arbeit in der Regel mit dem Hochladen der Fotografie in die Bilddatenbank abgeschlossen.

In Szene gesetzt

Weltweit haben nun Medien wie die SZ Zugriff auf dieses Bild und können es verwerten. Die Bilderdienste der Nachrichtenagenturen wie AP funktionieren als Aboservice: Einmal abonniert, können die Nutzer beliebig viele Bilder aus dem Archiv publizieren. Der Fotografie sind zu diesem Zeitpunkt bereits verschiedene Bedeutungen zugeschrieben. Während die Bildunterschrift der Agentur es nahelegt, das Bild in Beziehung zu einem konkreten Ereignis zu zeigen, ist eine andere Variante, die Fotografie als generisches Konfliktbild zu publizieren. Das war vermutlich auch die Intention der Bildredaktion der SZ.

Nun kommen die BildredakteurInnen ins Spiel. Sie bekommen den Auftrag, einen bereits existierenden Text zu bebildern. Die Textautoren sind in diesem Prozess meist außen vor. So greift die Bildredaktion auf die Schlagwortsuche der verschiedenen Bilddatenbanken zurück. Die Bilderflut, also der Pool der Bilder, aus dem Bildredaktionen Fotos auswählen können und müssen, ist immens groß und ständig im Wachstum begriffen. Dies erschwert die Auswahl und fördert den Rückgriff auf bekanntes Bildrepertoire.

Als gedrucktes Medium mit einem klar definierten Format lebt die Zeitung vom Zusammenspiel von Foto und Text. Bilder übernehmen je nach Kontext die Funktion der Information oder der Visualisierung. Die Informationsfunktion ist dann gegeben, wenn Bilder eine visuelle Botschaft vermitteln, die ergänzend zum Text funktioniert. Diese kann beispielsweise darin liegen, im Text erwähnte Orte zu zeigen oder Personen im Bild vorzustellen. Bei der Visualisierungsfunktion hingegen ist der Bild-Text-Bezug weniger stark und es geht vor allem um den Akt der Bebilderung. Diese folgt meist ästhetischen Kriterien und soll die Aufmerksamkeit der LeserInnen lenken.

Im Fall des von der SZ veröffentlichten Bildes gibt es zwischen Text und Bild nur eine minimale Übereinstimmung, die darin besteht, dass sich beide auf die politische Situation in Israel/Palästina und den Konflikt beziehen. Nicht mehr und nicht weniger. Problematisch ist, dass sich Artikel und Bild jeweils auf konkrete Ereignisse beziehen, die inhaltlich nichts miteinander zu tun haben. Das eigentlich Perfide jedoch ist die von der SZ hinzugefügte Bildunterschrift. Hier wird deutlich, wo aus Sicht der Redaktion die Verbindung zwischen Bild und Text liegt und es wird eine klare Deutung sowohl des Bildes als auch der Ereignisse vorgegeben. Die Botschaft lautet: Palästinenser werfen Steine auf israelische Sicherheitskräfte, wenn der Friedensprozess ins Stocken gerät.

Klischees zum Konflikt

Die Bildredaktion der SZ hat mit den Steinewerfern einen Eye-Catcher gesetzt, um die Aufmerksamkeit der LeserInnen zu wecken. Gleichzeitig werden damit einfache Bildklischees über den Konflikt bedient. Das Bild Steine werfender Palästinenser gehört zur seit der Ersten Intifada gepflegten Ikonografie des Konflikts und hat eine simplifizierende Botschaft: Palästinenser antworten mit Steinen, wenn es nicht läuft wie sie wollen. Dabei ist die Bedeutung dieser Bildklischees inhaltlich hochgradig umstritten. Während die einen hinter den Steinewerfern die Formation des »David gegen Goliath« und ein Zeichen des zivilen Widerstands sehen, steht dies für die anderen für ein Symbol der Aggressivität der Palästinenser und für ihren Friedensunwillen. Der Vorteil von Bildstereotypen ist, dass damit an das visuelle Gedächtnis der LeserInnen appelliert wird. Journalistisch hingegen haben sie meist kaum einen Wert.

Im hier beschriebenen Fall befindet sich die Fotografie sowohl bei der Produktion als auch bei der Publikation in einem journalistischen Kontext. Die Probleme der Kontextualisierung und der Funktionswandel von einer Bildnachricht zu einer Illustration mit symbolischem Inhalt geschehen innerhalb der Sphäre des Journalismus. Eine andere Verwendung außerhalb des Journalismus ist in diesem Fall auch von AP als Inhaberin der Bildrechte durch den Zusatz »for editorial use only – nur für den journalistischen Gebrauch« ausgeschlossen.

Oft machen Fotografien jedoch multiple Transformationen und Funktionswandel durch. So finden sich Fotografien aus der journalistischen Produktion in Museen und damit in einem Kunstkontext oder als Teil von Werbekampagnen wieder.4 Je nach Art und Weise des vollzogenen Funktionswandels haben das publizierte Bild und dessen Kontextualisierung nur noch wenig mit dem Produktionskontext und der Intention der FotografInnen zu tun. Trotz allem finden sich in den Bildern fast immer Spuren, die auf den ursprünglichen Entstehungskontext eines Bildes verweisen. Selbst dann, wenn die dargestellten Situationen inszeniert oder das Bild technisch manipuliert sein sollten, gibt es immer noch indexikalische – also auf die Realität verweisende – Elemente, die verfolgt werden können, um damit den Bildinhalt lesbar und interpretierbar zu machen.

Bezeichnend für die diskutierte Publikationspraxis der SZ ist, dass sowohl die Agentur AP als Bildverwerterin wie auch Bernard Armangué als Bildproduzent an den hier kritisierten Prozessen nicht beteiligt waren. In der Nachrichtenfotografie stellt dies den Normalfall dar. Damit wird deutlich, wie sehr die veröffentlichte Bild-Text-Kombination ein Medienprodukt ist, das von AkteurInnen zusammengestellt wird, die den Produktionskontext meist nicht kennen. Problematisch ist dies deswegen, weil von den KonsumentInnen das über Tageszeitungen medial vermittelte Bild über den israelisch-palästinensischen Konflikt meist mit der Intention des Fotografen sowie mit der (Konflikt-) Realität vor Ort gleichsetzt wird. Dies ist eine gefährliche Verkürzung.

 

Anmerkungen

1: siehe http://bernatarmangue.com

2: Das Originalbild ist unter www.apimages.com mit den Stichworten »Mideast Israel Palestinians Prophet Film Free Speech« zu finden.

3: Andrew L. Mendelson (2008): The construction of photographic meaning, in: Handbook of Research on Teaching Literacy through the Communicative and Visual Arts – Volume II, Flood, James u.a., New York/London: Lawrence Earlbaum Associates, S. 28.

4: Im Jahr 2012 nutzte z.B. der Waffenhersteller Lockheed Martin ein aus Afghanistan stammendes Bild des amerikanischen Fotografen Ron Haviv für eine Werbekampagne.


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