Statistisch betrachtet ist es ein kleines Wunder, dass Philipp Pressel heute noch lebt. Als die Kinderärztin seinen Eltern im Jahr 1980 die Diagnose mitteilt, sagt sie einen vernichtenden Satz: "Sie können froh sein, wenn Ihr Sohn das Kindergartenalter erreicht." Pressel ist zu diesem Zeitpunkt ein Säugling. 37 Jahre später sitzt er in einer Altbauwohnung in Hildesheim auf dem Sofa und sagt trocken: "Über das Kindergartenalter bin ich ja nun langsam hinaus."
Nicht nur er. Pressel ist einer von rund 8.000 Menschen in Deutschland, die mit Mukoviszidose leben. Die Stoffwechselstörung gehört zu den seltenen Krankheiten und ist auch unter dem Namen Cystische Fibrose (CF) bekannt. Eine Mutation sorgt dafür, dass viele Organe zähflüssigen Schleim produzieren, der sie auf Dauer schädigt. Vor allem die Lunge und die Bauchspeicheldrüse sind betroffen.
Obwohl es für Mukoviszidose-Patienten bis heute keine Heilung gibt, ist ihre Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten drastisch gestiegen. Als die Erbkrankheit 1938 erstmals beschrieben wird, sterben die meisten betroffenen Kinder vor ihrem ersten Geburtstag. 1980, als Pressels Eltern die Diagnose erfahren, liegt die Kinderärztin mit ihrer pessimistischen Schätzung bereits weit daneben: Viele Patienten überleben zu dieser Zeit bis ins junge Erwachsenenalter. Aber es kommt durchaus vor, dass sie als kleine Kinder an der Erkrankung sterben.
Damals verstehen Mediziner die Mukoviszidose längst nicht so gut wie heute. Erst 1989 entdecken Forscher den zugrunde liegenden Gendefekt. Zu dieser Zeit ist Pressel in der Grundschule. Während er heranwächst, verbessert sich die medizinische Versorgung. Kinder mit CF, die heute geboren werden, können nach Einschätzung des deutschen Vereins Mukoviszidose e. V. mit einer Lebenserwartung von 40 Jahren rechnen. Im Fachmagazin European Respiratory Journal machten Experten darauf aufmerksam, dass mittlerweile mehr Erwachsene als Minderjährige mit Mukoviszidose leben – und dass sich die auf Kinder spezialisierte Versorgungslandschaft auf eine wachsende und alternde Klientel einstellen müsse.
Dass es Pressel so lange gut ging, hat er auch seiner resoluten Mutter zu verdanken. Sie ist Sportlehrerin und lässt ihn Trampolin springen und turnen in einer Zeit, in der Ärzte CF-Patienten noch von zu viel Bewegung abraten. Heute gehört Sport zur Therapie, es ist erwiesen, dass er die Leistung der Lunge verbessert und den Schleim verflüssigt. Obwohl Pressels Lunge zu Beginn noch zuverlässig funktioniert, beginnt er als kleines Kind zu inhalieren und lernt Atemtechniken. Später geht er jede Woche zu einer Physiotherapeutin, die mit ihm Atemübungen macht und seinen Brustkorb mit speziellen Handgriffen bearbeitet. Es geht immer wieder um den Schleim: Die Patienten müssen ihn lösen, nach oben transportieren, abhusten. "Das ist harte Arbeit", sagt Pressel.
Stefan Dewey kann das
bestätigen. Er ist Internist an der Strandklinik St. Peter-Ording und
einer von Pressels Ärzten. "Patienten mit Mukoviszidose müssen sich
konstant selbst therapieren", sagt er. "Philipp Pressel konnte die
Krankheit auch durch seine Disziplin lange recht gut in Schach halten."
Im Durchschnitt, erklärt Dewey, müsse ein CF-Patient täglich drei
Stunden für die Eigentherapie aufwenden.
Dazu gehört auch eine besondere Ernährung. Weil Pressels Bauchspeicheldrüse nicht richtig arbeitet, muss er Enzyme schlucken – sonst könnte sein Darm keine Fette verwerten. Zu den Mahlzeiten nimmt er Pillen, 15 bis 20 pro Tag. Weil die Krankheit viel Kraft kostet, rührt er sich Joghurt mit zehn Prozent Fettanteil ins Müsli und trinkt hochkalorische Getränke. Der Kampf gegen Mangelernährung und Untergewicht ist eine ständige Herausforderung für CF-Patienten.
Mit der Zeit macht sich die Krankheit auch in Pressels Lunge bemerkbar. Etwa zweimal im Jahr erwischt ihn eine Lungenentzündung. Dann müssen CF-Patienten für eine zweiwöchige Antibiotika-Therapie ins Krankenhaus. Mit 15 Jahren fängt sich Pressel einen resistenten Keim ein, wie es vielen Mukoviszidose-Patienten passiert. Medikamente drängen den Erreger zurück, lassen ihn aber nicht vollständig aus der Lunge verschwinden. Ein zweites Bakterium kommt fünf Jahre später dazu. Beide Keime verschlechtern langfristig die Leistung der Lunge. Pressel schafft trotzdem sein Abitur, arbeitet bei der Deutschen Rentenversicherung und führt ein selbstbestimmtes Leben. Als junger Erwachsener merkt er die Folgen der Krankheit dann deutlicher. Mit 24 Jahren muss er sich eingestehen, dass er mit seinem Hobby, Hip-Hop-Tanzen, auf dem bisherigen Niveau nicht mehr weitermachen kann. Er gerät zu schnell außer Atem. Seine Lunge baut ab.
Als letzte Maßnahme bleibt nur noch eine Lungentransplantation
Wenn Pressel sich nicht gut fühlt, fährt er in die nahe gelegene Lungenambulanz der Medizinischen Hochschule Hannover. Dort wird er von Experten untersucht und behandelt. "Wer so eine spezialisierte Versorgung regelmäßig nutzen kann, dessen Chancen stehen auf lange Sicht besser", sagt Lungenexperte Stefan Dewey.
Dennoch verschlechtert sich Pressels Zustand nach seinem 30. Geburtstag zusehends. Wegen seiner Infekte muss er immer öfter ins Krankenhaus und verliert an Gewicht, was ihn weiter schwächt. Die Hustenanfälle kommen in immer kürzeren Abständen. Er inhaliert nun dreimal täglich, insgesamt über zwei Stunden.
Wie fühlt sich das an, wenn die Lunge so krank ist? "Ungefähr wie bei einer fetten Erkältung, aber eben dauerhaft", erklärt Pressel. Er wohnt im zweiten Stock. Irgendwann braucht er eine Viertelstunde, um die Treppe hochzukommen. Ab Juni 2016 ist Pressel durchgehend auf Sauerstoff angewiesen. Er hat ein mobiles Gerät für unterwegs, zu Hause steht ein großer Tank hinter der Tür im Schlafzimmer.
Wenn die Erkrankung spürbar voranschreitet, steigt auch die psychische Belastung für die Patienten. Manche, erzählt Pressel, gehen ungern mit Sauerstoffschlauch vor die Tür, weil man ihnen die Krankheit sofort ansieht. Er macht es anders, setzt sich im Sommer in die Strandbar und genießt die Sonne. Was auch hilft: Pressel ist nicht allein, 2014 hat er geheiratet. Seine Frau unterstützt ihn. "In den letzten zwei Jahren, in denen es wirklich schlechter wurde, haben wir uns gesagt: Ist jetzt blöd, aber das schaffen wir schon", erinnert er sich.
Mukoviszidose gehört zu den seltenen Erkrankungen. So werden alle Krankheiten genannt, die bei weniger als 5 von 10.000 Personen vorkommen. Derzeit sind 7.000 bis 8.000 solcher Krankheitsbilder bekannt, insgesamt sind in Deutschland etwa vier Millionen Menschen davon betroffen. Seltene Erkrankungen sind häufig genetisch verursacht oder mitbedingt. Die ersten Symptome zeigen sich wie bei der Mukoviszidose oft bereits im Kindesalter. Im Laufe des Lebens schreiten viele seltene Krankheiten fort und schränken die Betroffenen körperlich oder geistig ein, oft auch beides. Typische Folgen sind Invalidität und eine geringere Lebenserwartung, heißt es beim Nationalen Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen Erkrankungen.
Seine Lunge ist zu diesem Zeitpunkt in einem lebensgefährlichen Zustand. Als letzte und drastischste Maßnahme bleibt nur noch eine Lungentransplantation. Pressel weiß, dass die OP riskant ist, aber er ist entschlossen: Er will ein Spenderorgan. Ab August 2016 steht sein Name auf der Warteliste von Eurotransplant. Pressel muss sich nun ständig verfügbar halten. Im September kommt der Anruf: Es gibt eine geeignete Lunge. Ein Krankenwagen bringt Pressel in die Medizinische Hochschule Hannover. Er wird fünf Stunden lang operiert. Nach dem Aufwachen stellt er als Erstes fest, dass er nicht mehr beatmet wird. "Da wusste ich, dass die Lunge arbeitet", sagt er.
Die Operation liegt inzwischen neun Monate zurück. Pressels Gesicht ist runder geworden. Er hat zugelegt, jedes Kilo ist für ihn ein Grund zur Freude. Die neue Lunge hat sich bewährt. Zusätzlich zu den Verdauungsenzymen muss er jetzt Tabletten schlucken, die verhindern, dass sein Körper das Spenderorgan abstößt. Weil diese Medikamente sein Immunsystem unterdrücken, trägt er manchmal einen Mundschutz. Pressel muss sich vor Keimen hüten, mehr denn je. Aber: Das Keuchen ist weg, das ständige Räuspern, der zähe Husten. Die Treppe in den zweiten Stock schafft er wieder locker.
Besiegt ist die Krankheit damit nicht. Das weiß Pressel, er bezeichnet sich als "realistischen Optimisten". Auch wenn die Spenderlunge gesund ist, im Rest von Pressels Körper wirkt die Mukoviszidose weiter. Bei vielen Patienten lässt die Funktion der neuen Lunge im Laufe der Zeit nach, durch Infektionen oder eine schleichende Abstoßungsreaktion, die manchmal trotz der Medikamente auftritt. Wie lange das Organ hält, kann niemand sagen. Pressel wird es genau wie die alte Lunge so gut wie möglich behandeln. Er berichtet von einem Bekannten aus der Reha, der seit 18 Jahren mit einer Spenderlunge lebt. Solche Zahlen interessieren ihn jetzt – von statistischen Mittelwerten hält er nicht mehr viel.
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