Fabienne Hurst

Journalistin und Filmemacherin, Hamburg

15 Abos und 13 Abonnenten
Artikel

Todesangst bei jedem Bissen

Es hätte einfach eine Portion Spargel sein können. Geschält, gekocht und mit guter Sauce serviert. Echte Butter, eine Seltenheit in Kriegszeiten. Margot Wölk hätte sich das teure Gemüse auf der Zunge zergehen lassen können. Genießen, während die meisten Menschen in Deutschland Kaffee aus Getreide tranken und Margarine mit Mehl streckten. Aber die junge Frau hatte bei jedem Bissen Todesangst. Denn Margot Wölk war Hitlers Vorkosterin. Sie war eine von 15 jungen Frauen, die zweieinhalb Jahre lang das Essen des Diktators auf Gift testen mussten.


Die 24-jährige Sekretärin war im Winter 1941 aus dem zerbombten Elternhaus in Berlin geflohen und zu ihrer Schwiegermutter nach Ostpreußen gezogen, ins beschauliche Groß-Partsch. Idyllisch gelegen, viel Grün, ein Haus mit großem Garten. Doch nur zweieinhalb Kilometer westlich befand sich der Ort, an dem Adolf Hitler sich sein Hauptquartier eingerichtet hatte. Die Wolfsschanze.


"Der Bürgermeister von dem kleinen Nest war ein alter Nazi", erzählt Margot Wölk. "Kaum war ich dort angekommen, stand auch schon die SS vor der Tür und verkündete: Du kommst mit!" Sie sitzt auf einem grünen Ledersofa in der schmal geschnittenen Wohnung im Westberliner Stadtteil Schmargendorf. Die gleiche Wohnung, in der sie vor 95 Jahren geboren wurde. Mit einer silbernen Kuchengabel spießt sie sorgfältig kleine Stücke Streuselkuchen auf und sagt: "Köstlich." Margot Wölk hat wieder gelernt, Speisen zu genießen. Es war nicht leicht.


Hitlers Schergen brachten Margot zusammen mit den anderen jungen Frauen zu einem Barackenbau im nahe gelegenen Krausendorf. Auf zwei Stockwerken bereiteten mehrere Köche das Mittagessen für die Wolfsschanze zu. Das Dienstpersonal schaffte Schüsseln und Platten mit Gemüse, Soße, Nudelgerichten und exotischen Früchten in einen Raum mit einem großen Holztisch. Dann musste probiert werden. "Fleisch gab es nie, Hitler war Vegetarier", erinnert sich Margot. "Das Essen war gut, sogar sehr gut. Aber genießen konnten wir es nicht." Es gab Gerüchte, dass die Alliierten Hitler vergiften wollten. Nachdem die Frauen das Essen getestet hatten, brachten die SS-Männer die Speisen in Kisten zum Hauptquartier.


Jeden Morgen um acht Uhr wurde die junge Frau bei ihren Schwiegereltern abgeholt. "Margot! Aufstehen!", riefen die SS-Männer unter ihrem Fenster. "Gebraucht" wurde sie jedoch nur, wenn Hitler auch im Hauptquartier war. Gesehen hat sie ihn nie. Margot, die sich stets geweigert hatte, dem Bund Deutscher Mädel beizutreten, deren Vater nicht befördert worden war, weil er die NSDAP-Mitgliedschaft abgelehnt hatte, wurde zu Hitlers Angestellten, seiner Helferin. Sie musste jeden Tag ihr Leben aufs Spiel setzen für einen Mann, den sie abgrundtief verachtete.


Eine Flucht kam dennoch nicht in Frage. Die Bomben der Alliierten hatten das Hausdach in Schmargendorf zerstört, die Wohnung war verwüstet, das Wasser stand kniehoch. Ihr Mann Karl war im Krieg, seit zwei Jahren hat sie nichts von ihm gehört. Sie hielt ihn längst für tot. "Wohin hätte ich gehen sollen?" Margot Wölk zuckt mit den Schultern. In Groß-Partsch hatte sie immerhin ihre Schwiegermutter und ein eigenes Bett. Ja, immerhin.


Doch dann kam der 20. Juli 1944. Ein paar Soldaten hatten die Frauen aus der Umgebung zu einer Filmvorführung in einem Zelt in der Nähe des Hauptquartiers eingeladen, als um 12.42 Uhr Claus Schenk zu Stauffenbergs Bombe unter Hitlers Kartentisch explodierte. "Der Knall riss uns von den Holzbänken", erinnert sich Margot. "Jemand schrie: 'Hitler ist tot!'" Von wegen, sagt sie trocken und winkt ab. "Er war mit ein paar blauen Flecken davongekommen."


Nach dem Attentat verschärften die Nazis die Sicherheitsmaßnahmen rund um das Hauptquartier. In allen Omnibussen wachten plötzlich SS-Männer, die Vorkosterinnen durften nicht mehr zu Hause wohnen, sondern wurden unter der Woche in eine leerstehende Schule in der Nähe der Wolfsschanze verfrachtet. "Wir wurden bewacht wie eingesperrte Tiere."

Eines Nachts stieg einer der SS-Offiziere mit Hilfe einer Leiter in das Zimmer, in dem Margot untergebracht war. Er vergewaltigte sie. Stumm ließ sie es über sich ergehen. "Das alte Schwein. Am nächsten Morgen lag nur noch die Leiter vor dem Haus." Noch nie habe sie sich so hilflos gefühlt. Margot Wölk erzählt mit einer Verachtung in der Stimme, die einem eine Gänsehaut beschert. Sie bleibt ruhig und sachlich. Ihr ist wichtig, dass man sie ernst nimmt.


Als die Rote Armee nur noch wenige Kilometer von der Wolfsschanze entfernt war, nahm ein Oberleutnant die junge Frau zur Seite. "Geh Mädel, geh weg von hier!", sagte er und setzte sie in einen Zug nach Berlin. Er hat ihr Leben gerettet. Später, nach dem Krieg, hat sie den Mann noch einmal in Berlin getroffen. Er sagte ihr, die anderen Vorkosterinnen seien allesamt von den russischen Soldaten erschossen worden. In Berlin tauchte Margot bei einem Arzt unter. Als SS-Soldaten in der Praxis auftauchten und die Flüchtige suchten, verleugnete er sie. Die Männer zogen wieder ab. Noch mal gerettet.


Doch als Margot zurück nach Schmargendorf kam, lief sie der russischen Armee geradewegs in die Arme. Zwei Wochen lang wurde sie brutal vergewaltigt. Die Soldaten fügten ihr derart schlimme Verletzungen zu, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte. Sie macht eine Pause. Die Erinnerung schmerzt. "Ich war so verzweifelt", flüstert die 95-Jährige. "Ich wollte gar nicht mehr leben." Erst als sie 1946 ihren Mann Karl wiedersah, begann Margot wieder zu hoffen. Er war gezeichnet vom Krieg und der Gefangenschaft, doch sie päppelte ihn wieder auf. Die beiden verbrachten 34 schöne Jahre zusammen.

Margot Wölk lächelt, wenn sie an ihren Mann denkt. Sie ist keine verbitterte Frau. Ganz im Gegenteil: Sie hat sich hübsch gemacht, trägt einen königsblauen Pullover, eine Kette aus kleinen Holzperlen, Schminke. Das mache sie manchmal, "sich anmalen". Trotz ihrer Vergangenheit habe sie immer versucht, fröhlich zu bleiben. "Meinen Humor habe ich nicht verloren, obwohl er sarkastischer geworden ist." Sie habe sich vorgenommen, nicht alles so dramatisch zu machen. "Das war immer mein Überlebenstrick."


Sie wollte lange nicht an die Zeit in Groß-Partsch denken, schon gar nicht darüber reden. Aber sie träumt noch immer davon. Es klingt fast so, als schäme sie sich dafür. Erst im vergangenen Winter hat sie angefangen, über die schlimmsten Jahre ihres Lebens zu sprechen. Ein Lokaljournalist hatte die 95-Jährige zu ihrem Jubiläum besucht, sie über ihr Leben befragt. Plötzlich habe sie den Entschluss gefasst, ihr Schweigen zu brechen. "Ich wollte nur sagen, was da los war. Dass Hitler ein ganz widerlicher Kerl war. Und ein Schwein."

Zum Original