Die Provenienzforschung widmet sich der Frage, wie Kunstgegenstände aus anderen Weltgegenden in die Kolonialstaaten gelangt sind. In Berlin rückt dabei langsam China in den Fokus des Interesses. Denn deutsche Soldaten haben beim Boxeraufstand reichlich kostbare Stücke abtransportiert. Ein Team von sieben deutschen Museen will zusammen mit der Shanghai University deren Herkunft und Verbleib klären.
Von Fabian Peltsch
Schon jetzt hat das Projekt „Spuren des Boxerkrieges“ internationale Strahlkraft. Eben erst haben Christine Howald, die Projektleiterin, und die am Projekt beteiligte Historikerin Kerstin Pannhorst ein japanisches Filmteam durch das Ethnologische Museum in Berlin-Dahlem begleitet. Die öffentlich-rechtliche Fernsehgesellschaft NHK aus Tokio dreht einen Film über Kunstobjekte aus dem Kolonialkontext, die sich im Besitz europäischer Museen befinden.
Die japanischen Journalisten löcherten dabei die beiden Wissenschaftlerinnen mit Fragen zur Provenienzforschung. Und mussten dazu erst einmal erklären, worum es überhaupt geht: Das noch recht junge Forschungsfeld will die Herkunft von Kunstobjekten ermitteln – und dabei auch die ungleichen Machtbeziehungen beleuchten, die eine Rolle spielten, als die Stücke einst ihren Besitzer wechselten. Sprich: Wurden sie gekauft, geraubt, getauscht, geschenkt, erpresst oder erbeutet?
„Spuren des Boxerkrieges“ ist ein Verbundprojekt von sieben staatlichen Museen. Gefördert wird es vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste. Zusammen mit ihren Kollegen konzentrieren sich Pannhorst und Howald dabei auf die Niederschlagung der sogenannten Boxer – einer Freiheitsbewegung, die sich um das Jahr 1899 in China gegen ausländische Besatzer auflehnte. Die „Bewegung der Verbände für Gerechtigkeit und Harmonie“, wie die Boxer sich selbst nannten, wurde 1900 von einem Bündnis aus deutschen, französischen, britischen, japanischen, italienischen, russischen, österreichisch-ungarischen und amerikanischen Truppen niedergeschlagen. Zehntausende Menschen wurden getötet, Kulturdenkmäler wie der kaiserliche Winterpalast geradezu ausgeweidet. Tausende Objekte, darunter Gemälde, Kalligrafien, Kleidungsstücke und sogar Haarzöpfe wurden geraubt und über die Jahre in alle Welt verstreut.
Boxeraufstand: Welche Soldaten waren damals in Peking dabei?
Heute findet man diese Objekte in privaten Kunst-Sammlungen, aber auch in Museen. Laut Schätzungen des Museums für Asiatische Kunst in Berlin gelangten Hunderte von Kunstwerken und andere Artefakte aus den Plünderungen direkt oder auch indirekt in deutsche Museumssammlungen, wo sie bis heute aufbewahrt und ausgestellt werden. Die Nachverfolgung ihrer Herkunft ist meist langwierig. „Hundertprozentig kann man bei so gut wie keinem Objekt herausfinden, wo genau es zu welchem Zeitpunkt war“, erklären die Forscherinnen. Es fehle noch an Grundlagenforschung. Dazu gehört zum Beispiel die Frage: Wer war 1900 überhaupt in Peking? „Deutschland hatte damals rund 20.000 Soldaten vor Ort“, sagt Pannhorst. „Das ist keine kleine Aufgabe.“
Bislang haben sich die Museen bei der geschichtlichen Aufarbeitung ihrer Bestände auf die NS-Zeit und Beutekunst aus Afrika konzentriert, wo Deutschland dauerhafte Kolonien hatte. China fiel dabei meistens unter den Tisch. „China war eine Halb-Kolonie, oder eine Stützpunkt-Kolonie – es gibt da verschiedene Begriffe“, erläutert Howald, die auch stellvertretende Direktorin des Zentralarchivs ist, das die Provenienzforschung der Staatlichen Museen koordiniert. „Man darf dabei jedoch nicht vergessen, wie gewalttätig die Niederschlagung der Boxer gewesen ist. Wir alle kennen die Bilder von den abgeschlagenen Köpfen.“
Auch die Tatsache, dass aus China im Gegensatz zu afrikanischen Ländern bislang keine offiziellen Rückgabeforderungen laut wurden, trug dazu bei, dass viele Museen das Thema links liegen lassen konnten. Dieses Mal arbeiten die Provenienzforscher:innen eng mit einem Team aus China zusammen. „Unser Partner ist die Shanghai University, weil diese seit vielen Jahren Kulturgut in außerchinesischen Sammlungen untersucht“, sagt Pannhorst. Zusammen werden Fragen zur geteilten Geschichte, neuen Ansätzen in der Forschung und der Zukunft der Objekte besprochen. Daher auch der Untertitel „Eine gemeinsame Annäherung“. Dass die Zusammenarbeit auch die Rückgabe bestimmter Stücke zur Folge haben kann, ist Teil des gemeinsamen Forschungsprozesses. „Das steht natürlich im Raum, und das ist auch von der Seite der deutschen Museen so gewünscht“, sagt Pannhorst. „Die Rückgabe ist aber nicht immer das primär deklarierte Ziel. Es geht hier um sehr feinfühlige Diplomatie.“
China kann die Rückgabe verlangen
Geraubte Kunstwerke, insbesondere solche aus gestürmten Palästen, haben für China einen hohen Symbolwert. Das sah man etwa 2009, als chinesische Bronzeköpfe aus der Kunstsammlung des Modeschöpfers Yves Saint Laurent auf der britischen Auktionsplattform Christie’s auftauchten. Die Objekte stammten aus dem Pekinger Sommerpalast, der während des zweiten Opiumkrieges 1860 von französischen und britischen Truppen geplündert worden war. Im chinesischen Internet, aber auch in den staatlichen Medien, brach ein Sturm der Entrüstung los: Die Skulpturen seien nationale Schätze und China der rechtmäßige Besitzer. In solchen Fällen habe der chinesische Staat früher Privatsammler angeregt, bestimmte Stücke auf dem freien Kunstmarkt einzukaufen und dann staatlichen Museen zu schenken, erläutert Howald.
Doch da habe mittlerweile ein Umdenken stattgefunden: „Es wird heute gesagt, wir kaufen diese Dinge nicht mehr, die gehören sowieso uns.“ Deshalb beobachten chinesische Stellen genau, wie sich die Provenienz- und Restitutionsdebatte in Deutschland weiterentwickelt. Ein Leitfaden vom deutschen Museumsbund über den Umgang mit Objekten aus kolonialen Kontexten, der 2018 erschien, wurde sofort ins Chinesische übersetzt. „Hier hat sich ein Möglichkeitsraum aufgetan“, sagt Howald. „Deshalb findet die chinesische Seite auch unser Projekt so wichtig.“
Ziel der Provenienzforscherinnen und -forscher ist es, im nächsten Jahr ebenfalls einen Leitfaden für Museen und Privatsammler herauszugeben. „Wir möchten so viele Werkzeuge wie möglich an die Hand geben“, sagt Pannhorst. „Welche Archive gibt es, wo erreicht man Experten, welche Faktoren deuten darauf hin, dass ein Stück tatsächlich geraubt worden sein könnte.“ Ein Indiz wäre zum Beispiel der Nachweis, dass ein Objekt aus dem Winterpalast des Kaisers stammt. Dort, in der „Halle des Purpurglanzes“, waren damals die deutschen Truppen einquartiert. „Viele Soldaten haben ihre Beute damals recht schnell veräußert, auch an Museen“, sagt Howald. Auch Chinesen hätten teilgenommen an der „Orgie der Plünderung“, wie ein Zeitzeuge es beschrieb.
In China sind die Stücke mindestens ebenso sicher
Dabei gab es in der deutschen Öffentlichkeit schon damals ein Unrechtsbewusstsein, was die Inbesitznahme fremder Kulturgüter betraf. „Das Thema war schon 1901 in den großen Tageszeitungen präsent“, sagt Pannhorst. „Das heißt aber auch, dass vieles nicht offen als geplündert deklariert wurde, um sich nicht öffentlicher Kritik auszusetzen.“
Das oft heruntergebetete Argument, dass die Stücke bei uns besser bewahrt worden seien, als in den Ursprungsländern, sei zum Glück aus dem wissenschaftlichen Diskurs verschwunden. Auch in Europa hätten die Depots nicht immer den besten konservatorischen Ansprüchen entsprochen, erklärt Howald. Zudem sei im Zweiten Weltkrieg vieles zerstört worden, so Pannhorst – „so viel zum Bewahren“. In Bezug auf China sei das Argument ohnehin nie anwendbar gewesen. „Es gibt dort eine lange Tradition des Kunstsammelns und später dann auch der Museen. Besonders in den letzten Jahren wurden da tolle konservatorische Bedingungen geschaffen“, sagt Howald.
Die beiden hoffen, dass bald auch andere Ausstellungshäuser nachziehen. „Was wir in unserem Verbundprojekt betreten, ist Neuland“, erklärt Howald. Noch müssen sich die Forscherinnen und Forscher in der Öffentlichkeit mit Vorurteilen auseinandersetzen und auch Misstrauen in manchen Museen abbauen, die fürchten, Sammlungsbestände zu verlieren. „Ich sehe uns und unser Projekt jedoch in der Verantwortung, die Kolonialzeit und unsere Geschichte aufzuarbeiten„, sagt Pannhorst. „Transparenz ist da sehr wichtig.“
Zum Original