"Ich habe so viel Liebe zu geben!" Elif lächelt verzückt, als hätte gerade jemand einen Korb voll Kätzchen vor ihr auf den Tisch gestellt. Der 24-jährigen Sängerin liegt das Herz nicht nur auf der Zunge, sondern auch in den Mundwinkeln, den Augen, den Augenbrauen, den Fingern. Alles an Elif ist Gefühlsausdruck. Das offenste Buch aber ist ihre Stimme.
Nicht wenige ihrer zerbrechlichen Popsongs klingen, als hätte sie die Tränen beim Singen nur mit Mühe unterdrückt. Wie schwierig es für so einen Gefühlsmenschen ist, sein Innerstes über Jahre zu verheimlichen, macht die Berlinerin im Titelsong ihres neuen Albums "Doppelleben" zum Thema. "Ich will euch alles sagen können, damit ihr seht und versteht, wer ich bin", fleht sie zu den orientalischen Klängen einer Duduk-Flöte. Es ist ein traurig gestimmtes Zwiegespräch mit ihren türkischen Eltern, die 1988 nach Deutschland emigrierten und dort Kinder bekamen, die ihnen mit den Jahren immer fremder wurden.
Mit 16 landet die Sängerin in der Castingshow "Popstars""Es war oft sehr schwer, mit meinen Eltern zu kommunizieren, weil sie mit anderen Werten aufgewachsen sind", sagt Elif, während sie sich abwesend einen Ring vom Finger dreht. " Jungs treffen, sich einfach mal ausprobieren: Sie kannten diese Welt nicht. Umso offener ich mit ihnen war, umso mehr haben wir gestritten."
Elif und ihre drei Geschwister wachsen im Stephankiez im Arbeiterbezirk Moabit auf. Der Vater arbeitet als Schweißer im benachbarten Wedding, oftmals bis spät in die Nacht. "Ich bleib mit dir bis morgen wach/ Bis du wieder schlafen kannst/ Du bist einfach nie angekommen, Baba", sang Elif bereits auf ihrem Debüt "Unter meiner Haut", das 2013 erschien. "Das Lied ,Baba' entstand nach einem sehr ehrlichen Moment, den ich mit meinem Vater hatte und der mich sehr berührt hat", erzählt sie. "Zu dem Zeitpunkt waren solche Momente aber die absolute Ausnahme."
Ihren Weg ging Elif früh alleine. Sie hatte immer den Drang sich auszudrücken, malte, schrieb Gedichte. Mit zwölf bekniet sie ihre Eltern, Gitarrenunterricht nehmen zu dürfen. "Ich war sehr bestimmt. Ich sagte: Mama, Papa, Das kostet 40 Euro im Monat. Ihr müsst das jetzt zahlen." Mit 16 landet Elif in der Pro-Sieben-Castingshow "Popstars", nachdem ein Freund sie dort angemeldet hatte, angeblich ohne ihr Wissen. Als Teil des vermeintlichen Traumpaars "Elif & Nik" kommt sie am Ende sogar bis auf Platz 2. "Popstars der Herzen" titelt die Bravo nach dem großen Finale. Elifs Gesicht wirkt milde gequält, als das Thema aufkommt. Sie möchte nicht, dass man sie heute noch mit der Show in Verbindung bringt. "Bei Popstars konnte ich nie bestimmen, was ich wollte. Was man da gesehen hat, war nicht die echte Elif."
Gegen den Willen der Eltern zieht sie in eigene WohnungElif lernt bei der durchgescripteten Sendung vor allem, was sie nicht will: auf der Bühne tanzen, Englisch singen. Nach der Show unterschreibt sie einen Vertrag bei Universal, der ihr genug Zeit garantiert, um sich zu entwickeln. Gegen den Willen ihrer Eltern zieht sie von zu Hause aus in eine eigene Wohnung, feilt an ihrer Musik und fragt sich: Wer bin ich eigentlich? "Viele junge Deutschtürken haben diesen ausgeprägten Nationalstolz. Gerade Mädchen hadern damit, wo sie hingehören. Und ich denke: Leute brecht das doch mal runter: Du bist auf eine deutsche Schule gegangen. Deine Eltern sind aus der Türkei. Du bist so wie du bist. Fertig. Du musst die türkische Kultur nicht perfekt verstehen. Wie solltest du auch? Du bist ja nicht da geboren."
Weil in Sachen Doppelpass damals noch Optionspflicht herrscht, entscheidet sich Elif schließlich für die deutsche Staatsbürgerschaft. "Das ist das Land, in dem ich alt werden möchte, das ist das Land, das mir am Herzen liegt, das mich beschäftigt", sagt die junge Sängerin, die ihre überquellende Gefühlswelt besonders in den Worten von Hermann Hesse, Eva Strittmatter und Joachim Ringelnatz wiederfindet. "Ich mag es, die Welt mit ihren Augen zu betrachten, ihre Gedanken über Liebe, Beziehungen und den Tod zu erfahren", schwärmt sie.
Elifs melancholische Musik ist ebenfalls urdeutsch, weil sie klingt, wie zeitgenössischer deutscher Pop heute eben klingt: einfühlsam und hymnisch, introspektiv und weltumarmend, sentimental und nach vorne schauend zugleich. Jan Böhmermann machte sich in seiner Parodie "Menschen Leben Tanzen Welt" über diese Art von Deutschpop lustig, nannte sie "Industriemusik", die Tiefe vorgaukle, aber tatsächlich seelenlose Gefühlsduselei sei.
Wer einmal in Elifs Emotionsradius Platz genommen hat und dabei Zeuge wurde, wie ihr Gesicht sich in einen ständig morphenden Spiegel der Seele verwandelt, zweifelt nicht daran, dass ihr Interesse am Menschen, dem Leben und der Welt echt ist. Natürlich ist auch "Doppelleben" ausproduzierter Mainstreampop, der sich verkaufen soll. Und dass der Hamburger Fayzen ihr beim Songwriting unter die Arme griff, gibt Elif ebenfalls offen zu. Dennoch wirken die 14 neuen Songs authentischer als Bendzko, Bourani und Co., gerade weil hier das Gefühl so uneingeschränkt regieren darf und Elif 50 Minuten lang aus schweren Kübeln das Herz über einem ausschüttet.
Die Eltern hörten die Platte im Wohnzimmer zum ersten MalDie eigenen Familienprobleme in den Fokus zu rücken, passt ebenfalls nicht zum "Heile-Welt-Getue", das Böhmermann sarkastisch auseinanderpflückte. "Ich wollte nicht mit dem Zeigefinger auf meine Eltern zeigen und sagen: Ihr habt was falsch gemacht. Ich wollte ihnen zeigen, wie ich mich fühle. Und vielleicht inspiriert der Song ja auch andere Familien, mal genauer hinzuschauen", erklärt Elif. Als sie ihren Eltern "Doppelleben" zum ersten Mal vorspielte, saßen sie gemeinsam im Wohnzimmer. "Ich wollte doch eigentlich alles besser machen, als meine Eltern, Elif. Aber ich habe nicht alles geschafft", sagte ihre zu Tränen gerührte Mutter. Die Tochter antwortete: "Mama, ist ja nicht schlimm, aber ich will nicht, dass es bei uns so bleibt. Es muss sich was ändern, sonst entfernen wir uns noch weiter voneinander." Deutscher Pop als interkulturelle Familientherapie - daran dürfte selbst Böhmermann nichts auszusetzen haben.
Elif: "Doppelleben". 14,49 Euro, Universal Music.
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