Muss man das lesen? Darf man das Buch unkommentiert in die Hände von Kinder gelangen lassen? Sollten Lehrer das Buch im Schulunterricht behandeln? Holen sich Kinder das nicht sowieso im Netz?
Viele diskutieren derzeit darüber, wer wie oft (und warum überhaupt) die Propagandaschrift "Mein Kampf" von Adolf Hitler lesen sollte. (Mit diesen Fragen beschäftigt sich auch DER SPIEGEL in seiner aktuellen Ausgabe.) Denn Anfang des Monats, 70 Jahre nach dem Tod des Diktators, lief das Copyright auf das Buch aus. Das gilt auch für viele andere Bücher, über die aber kaum einer spricht. Zu unrecht, finden wir. Denn sie geben einen besseren Einblick in den Tiefpunkt deutscher Geschichte als "Mein Kampf".
Deswegen stellen wir hier sieben, neuerdings ebenfalls gemeinfreie Bücher vor, deren Autoren wie (und oft wegen) Adolf Hitler 1945 starben.(Bild: Allitera Verlag)
"Tagebuch eines Verzweifelten" von Friedrich Reck-Malleczewen
"Seit mehr als zweiundvierzig Monaten denke ich Hass... träume ich Hass, um mit Hass zu erwachen." Das schreibt der deutsche Arzt und Schriftsteller Friedrich Reck-Malleczewen zu Beginn seines "Tagebuch eines Verzweifelten". Es ist vielleicht eines der eindringlichsten Zeugnisse der Nazi-Barbarei - mit Sicherheit aber eines der wütendsten. Vom Volk, das "geisteskrank" ist, von "industriellen Raubrittern" und den Nazis als "Horde böser Affen", scheibt Reck-Malleczewen, dessen eigene reaktionäre Weltsicht für heutige antifaschistische Ohren sehr befremdlich anmutet. Sein letzter Eintrag beschreibt seine Verhaftung am 14. Oktober 1944.
Der konservative Nazi-Gegner starb im Februar 1945 im KZ Dachau.
Kostenlos erschienen ist das Tagebuch bisher nirgends. Reinlesen kann man auf der Website des Verlages. (PDF)"War Time Columns" von Ernie Pyles
"In diesem Krieg hat niemand die Geschichte des amerikanischen Soldaten so gut auf jene Weise erzählt, wie sie der amerikanische Soldat erzählt wissen wollte." Es spricht vielleicht nicht unbedingt für die Unabhängigkeit eines Journalisten, ein solches Lob zu bekommen - erst recht nicht, wenn es vom eigenen Präsidenten stammt. Und trotzdem gehören die Texte des amerikanischen Journalisten und Pulitzer-Preisträgers Ernie Pyle zu den anschaulichsten Kriegsberichten, die damals oft aus der Aufzählung von Truppenbewegungen bestanden, von eingenommenen Brückenköpfen und gefallenen Soldaten. So beschreibt er zum Beispiel Soldaten, die sich zur Landung in der Normandie vorbereiten:
"Stellen sie sich New York am belebtesten Tag des Jahres vor. Und dann vergrößern Sie die Szene, bis sie das ganze Meer einschließt, welches das menschliche Auge bis zum und über den Horizont hinaus erfassen kann. Es sind dutzendfach so viele."
Nach Reisen an so ziemlich jeden amerikanischen Kriegsschauplatz endeten Pyles Berichte am 18. April 1945 bei Kämpfen auf der japanischen Insel Okinawa.
Die University of Indiana hat Pyles gesammelte Kolumnen online gestellt. Wer keine Lust auf Lesen hat, kann sie sich auf der Website sogar vorlesen lassen.Felix Salten schrieb "Bambi" (Bild: Unionsverlag)
"Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Wald" von Felix Salten
Ja, es geht um Bambi, das kleine Reh mit der toten Mutter. Für die einen ist das 1923 erstmals veröffentlichte Buch eine der bekanntesten und traurigsten Kindergeschichten. Für die anderen ist es eine Fabel über den Terror des Gejagtwerdens, über Grausamkeit, Hilflosigkeit und Betrug, über den letzten Hauch Liebe in einer wahnsinnig gewordenen Welt.
Den Nationalsozialisten gefiel das Buch nicht, sie ließen es verbrennen. Sein österreichisch-jüdischer Schöpfer Felix Salten blieb dennoch von Repressalien verschont. Seine internationale Bekanntheit, die sich vor allem auf "Bambi" begründete, hat ihm wohl das Leben gerettet.
Er starb am 8. Oktober 1945 im Züricher Exil.
Einen Scan der englischen Übersetzung von Bambi gibt es hier. Wer es authentischer mag, kann sich hier die deutsche Originalausgabe von "Bambi" für 260 Euro bestellen. "Kriegstagebuch" von Rosa Jegorowna SchaninaWäre Rosa Jegorowna Schanina Amerikanerin, wäre ihre Lebensgeschichte wahrscheinlich längst verfilmt. Kurz und dramatisch: Die junge Schanina arbeitet im nordrussischen Arkhangelsk als Kindergärtnerin. Als deutsche Bomber die Stadt angreifen, löscht sie erst den brennenden Kindergarten und zieht dann in den Krieg, um ihren getöteten Bruder zu rächen. Mindestens 59 Nazis legt sie mit ihrem Scharfschützengewehr um. Schon zu Lebzeiten wird sie als "unsichtbarer Terror von Ostpreußen" zur Legende.
Hinterlassen hat Schanina allerdings nicht nur jede Menge tote Nazis, sondern auch ein Tagebuch. Dort zeigt sich die Nazi-Jägerin auch als ganz normale 20-jährige Frau, die oft mehr an ihren männlichen Kameraden als an den Nazis verzweifelt. Selbst eine kleine Liebesgeschichte verbirgt sich in den Aufzeichnungen.
Schanina starb am 28. Januar 1945, sie wurde von einer Granate getroffen.
Anders als Hitlers Übersetzung ist ihr Tagebuch (und dessen englische Übersetzung) nur in einigen wenigen Bibliotheken zu finden. Zur Protagonistin in einem Film hat sie es hingegen geschafft:Bonhoeffer wurde von den Nationalsozialisten hingerichtet (Bild: dpa)
"Gefängnisbriefe" von Dietrich Bonhoeffer
Wann immer in Deutschland jener überschaubaren Menge an Menschen gedacht wird, die nicht mitgemacht haben, fällt sein Name als einer der ersten: Dietrich Bonhoeffer.
Seit 1933 sprach der Theologe nicht nur von der Bergpredigt, sondern auch vom offenen Widerstand gegen das NS-Regime. Statt in den sicheren USA zu dozieren, suchte er in Europa nach Unterstützern gegen Hitler, verwandelte sein Ferienhaus zum Versammlungsort einer kleinen Verschwörerclique, scheiterte beim Attentat auf Hitler und wurde nur einen Monat vor Ende des Krieges im KZ Flossenbürg am 9. April 1945 ermordet.
Die Welt hat er dennoch verändert, zum Beispiel mit seinen Briefen, die er aus dem Gefängnis in Berlin Tegel schrieb. Dort skizzierte er unter anderem die Vision einer Kirche im Dienst der Armen und Unterdrückten. Eine Idee, die später in Südamerika zur Befreiungstheologie heranwuchs.
Bonhoeffers gesammelte Briefe wurden posthum im Band "Widerstand und Ergebung" herausgegeben. Bei Amazon gibt es sie für ein paar Euro."Verse aus Theresienstadt"
Als die Berlinerin Gertrud Kantorowicz nach einem missglückten Fluchtversuch 1942 in das KZ Theresienstadt deportiert wird, hatte die Kunsthistorikern schon unzähligen Verfolgten das Leben gerettet. Drei Jahre lang schreibt sie dort Gedichte auf kleine Papierfetzen und sucht Antworten auf Fragen, die auch 70 Jahre später noch genauso aktuell erscheinen: Wie nur konnte das Deutschland der Kunst und Philosophie solch eine Barbarei hervorbringen?
Kantorowicz starb 68-jährig im April 1945, 20 Tage bevor sowjetische Truppen das Lager befreiten.
Online sind die Verse bisher nicht erschienen, seit 2010 gibt es aber eine Gesamtausgabe ihrer lyrischen Werke. Einen Vorgeschmack gibt die Website der Gedenkstädte Theresienstadt.
(Bild: dpa/Anne Frank Fonds Basel)
"Das Tagebuch der Anne Frank"
Für Historiker sind die Tagesbucheinträge der Anne Frank eines der eindringlichsten persönlichen Dokumente der Judenverfolgung zur NS-Zeit. Millionen Schulkinder weltweit haben die Briefe an Kitty gelesen. Anne Frank schrieb sie aus ihrem Hinterhaus-Exil in Amsterdam; sie erzählte von den Streitigkeiten mit ihrer Mutter und von ihren Träumen, von denen nur der Leser weiß, dass sie nie wahr werden können. Das Tagebuch hat das NS-Bild vieler Deutscher geprägt - und wird es auch in Zukunft tun.
Anne Frank starb im März 1945 im Konzentrationslager Bergen Belsen.
Die Rechtenachfolger von Anne Frank streiten sich zurzeit darüber, ob das Urheberrecht wirklich abgelaufen ist. Online frei verfügbar gibt es hier bisher eine holländische Version.