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Reportage

Endstation Seziertisch

Jürgen T. Das ist der Name, der auf den weißen Plastikbehältern steht, die offen in dem kahlen, grau verfliesten Raum stehen und einen süßlichen Verwesungsgeruch verbreiten. Zu diesem Geruch mischt sich ein noch aggressiverer, der schwer in der Luft hängt und den wenigen Anwesenden beißend in die Lungen hinabzieht. Es handelt sich um Formaldehyd, das dazu verwendet wird, den Bereich so steril wie möglich zu machen und die Untersuchungsobjekte frisch zu halten. Ein merkwürdiger Gedanke, dass für Jürgen T. extra noch sauber gemacht wurde. Fast so, als würde er in ein Hotel einchecken. „Meine Damen und Herren, das ist die Lunge. Es ließ sich keine Ursache für ein Lungenversagen feststellen“, meldet sich der Gerichtsmediziner mit den buschigen, dunklen Augenbrauen zu Wort und zeigt auf eine der beschrifteten Plastikboxen. Jedes Augenpaar im Raum richtet sich zuerst auf die aufgeklappte violett-rötliche Masse, die von dem Mediziner sorgsam noch ein weiteres Mal untersucht wird. Danach suchen die Blicke nach dem Ursprung der Lunge und wandern in Richtung des weit geöffneten Brustkorbes, der nur mehr ein klaffendes schwarzes Loch beherbergt. „Wir untersuchen Herrn T. nach dem Ausschlussprinzip“, spricht der Mediziner weiter, „wenn es die Lunge nicht war, war’s ein anderes Organ“. Auf dieses Stichwort hin setzt sich ein großer muskulöser Mann, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, in Bewegung.

Eine Mischung aus Faszination und Ekel

Dass der ausgeweidete Jürgen T. auf eine unnatürliche Weise zu Tode gekommen sein muss, ist allen Anwesenden klar. Eine gerichtliche Obduktion wird nur dann angeordnet, wenn Verdacht auf Fremdverschulden besteht. In solchen Fällen erstattet das Krankenhaus oft selbst Anzeige, um nicht in Verdacht zu geraten, etwas vertuschen zu wollen. Die Staatsanwaltschaft leitet daraufhin eine genaue Untersuchung ein. So auch bei T., der Opfer eines „Mors in tabula“, dem Tod am OP-Tisch, geworden war und um den sich sämtliches Krankenhauspersonal in verdächtiges Schweigen gehüllt hatte, wie der Pathologe verrät. Mit großen Schritten eilt der bullige Mann auf den Seziertisch zu, auf dem Jürgen T. entblößt liegt. In der Hand hält er ein Gerät, das wie eine Kombination aus einem Pizzaschneider und
einem Trockenrasierer aussieht. Noch verstörender als das Objekt in seiner Hand ist die lange weiße Plastik- Schürze, die er um seinen wuchtigen Körper geschlungen hat, auf der in fröhlichen Lettern „Mike“ steht. Mike ist der Obduktionsgehilfe, wie sich herausstellt. Der Gerichtsmediziner zieht seine dichten Augenbrauen, die ein bisschen an den Piraten Captain Hook aus „Peter Pan“ erinnern, hoch und gibt ihm ein Handzeichen, auf das hin der Schürzenträger das Gerät in seiner Hand zum Laufen bringt. Ein schriller Ton hallt durch den quadratischen, weiß verfliesten Raum. Manche der Anwesenden heben erschrocken ihre Hände und deuten an, sie schützend über die Ohren legen zu wollen, lassen sie aber schnell aus Höflichkeit wieder sinken. Mit einer Mischung aus Faszination und Ekel sehen alle mit starrem Blick dabei zu, wie Mike die Schädelsäge an der Stirn des verstorbenen Jürgen T. ansetzt und sich das Gerät mit einem quietschenden Geräusch, ähnlich dem Ton eines Fliesenschneiders, seinen Weg durch den menschlichen Knochen frisst.

„Wir entnehmen nun das Gehirn“

Dieser Anblick ist zuviel für manche der Teilnehmer. Zwei Frauen werden immer blasser und als der Obduktionsgehilfe den Kreis vollendet und die Spitze des Schädels abnimmt wie den Deckel eines Terracotta- Gefäßes, verlassen die beiden bestürzt den Raum. In diesem Moment greift der Gerichtsmediziner zu seinem Diktiergerät. „Wir entnehmen nun das Gehirn, um festzustellen, ob es sich um einen Schlaganfall gehandelt haben könnte.“ „Klick“. Nachdem er die Stopptaste gedrückt hat, fügt er mit einem kecken Blick hinzu: „Ich wage das aber zu bezweifeln.“ Jürgen T., der mit seinen hellblauen Augen und dem schmalen Mund wie ein freundlicher alter Mann aussieht, muss nun sein Innerstes preisgeben, damit der Mediziner feststellen kann, was wirklich die Ursache seines Todes war. „Herr T. kam vor fünf Tagen ins Krankenhaus, um ein Blutgerinnsel in der Niere untersuchen zu lassen. Dem Patienten ist ein Kontrastmittel verabreicht worden, um das Gerinnsel lokalisieren zu können. Was mich als Mediziner stutzig macht, ist, dass Herr T. bereits ein Jahr zuvor bei einem Eingriff allergisch auf das Kontrastmittel reagiert hatte. Er musste sogar reanimiert werden und das alles steht in seiner Akte.“

Nur noch eine leere Hüllle

Der Leichnam war im Krankenhaus schon geöffnet worden, weswegen sich über den Bauch eine lange Narbe zieht, die mit einem dicken, lilafarbenen Faden wieder zugenäht worden ist und die Organe in den sorgfältig beschrifteten Plastikbehältern aufbewahrt wurden. Einen dieser Behälter reicht der Gerichtsmediziner seinem Gehilfen Mike, als dieser die Gesichtshaut so weit vom Schädelknochen getrennt hatte, dass er nun mühelos die charakteristisch gewundene Masse entnehmen und in den Behälter befördern kann. Die Blicke der Anwesenden wandern gebannt mit dem Gefäß in Richtung des Mediziners, der bereits mit dem Skalpell auf das Untersuchungsobjekt wartet. Der Anblick, den der Tote bietet, ist grausig. Jürgen T., der gerade noch so freundlich ausgesehen hat, ist nur noch eine leere Hülle. Noch einmal zückt der Gerichtsmediziner sein Diktiergerät. "Nach genauer Untersuchung lässt sich keine natürliche Todesursache feststellen". Er drückt auf einen Knopf und legt das Gerät weg. Dann dreht er sich um und er nickt die ganze Zeit, als er erklärt, dass sich der Arzt, der Jürgen T.’s Leben beendet hat, auf ein Gerichtsverfahren einstellen kann. Nun wandern auch die Gedanken und Erinnerungen von Jürgen T. in einen mit seinem Namen gekennzeichneten Plastikbehälter.