Stuttgart - Geschäftsleute stehen im Foyer, plaudern, die Kostümchen edel, die Anzüge glänzende Dreiteiler, an den Decken Kronleuchter. „Na, schauen Sie mal, dieser Herr ist der beste Steuerberater Stuttgarts!" Schulterklopfen, effektvolles Lachen, Gläser klirren. Und dann - bäm! - poltert eine Gruppe Grundschüler die Treppen herauf. In grellen Anoraks, mit wilden Mähnen, klobigen Winterstiefeln und Schulranzen fallen sie ein wie Außerirdische. Im edlen Restaurant des Stuttgarter Hotels am Schlossgarten werfen 24 Viertklässler Daunenjacken und Taschen über graugrün samtene Stühle.
Die Grundschüler der Stuttgarter Johannes-Brenz-Schule sollen hier an einem Nachmittag gutes Benehmen lernen. Die Knigge-Trainerin Gudrun Weichselgartner-Nopper, blonde Lockenwickler-Wellen, High Heels und viel Make-up, begrüßt noch im Vorbeigehen den ein oder anderen Geschäftsmann. Man kennt sich.
Die Kinder sitzen, blicken die Benimmlehrerin erwartungsvoll an. Das ist die Kunst: diesen Blicken gerecht zu werden. Das vergisst man schnell, wenn man nie vor Schulklassen steht. Da muss jetzt was kommen. Die ersten Minuten entscheiden.
Worum geht es heute? „Es gab da mal so einen Herrn, der hieß Knigge, und der hat die Tischregeln erfunden", meint Nico. Und Zara: „Den Typ haben die anderen ausgelacht, denn früher haben die Leute wie Schweine gegessen, und das war normal." So lässt sich grob zusammenfassen, wer Freiherr Adolph von Knigge (1752-1796) war. Wenngleich seine Schrift „Über den Umgang mit Menschen", die heute als Prototyp des Benimmratgebers gilt, nie auf kleinkarierte Etikette zielte. Er behandelte die Frage, wie Menschen im Sinne der Aufklärung besser miteinander auskommen können, damit das Leben einfacher wird.
Auch heute noch könnten sich manche nicht gut benehmen, sagt Gudrun Weichselgartner-Nopper, die Kinder rutschen auf den Stühlen hin und her. Alisan kann das bestätigen: „Ich wurde im Einkaufszentrum angerempelt, ich sag so: ,'tschuldigung', obwohl der andere ja mich angerempelt hat. Aber der läuft einfach weiter."
Das tue weh, wenn jemand so unfreundlich sei, meint Gudrun Weichselgartner-Nopper. Oder wenn der Freund viel zu spät zur Verabredung komme, sich bei der Geburtstagsparty total danebenbenehme, bei allen Spielen dauernd gewinnen wolle und drei Stück Kuchen und zwei Saitenwürstchen anbeiße, nur, um sie am Ende so liegen zu lassen. Autsch, mit so einem Zeitgenossen wolle man nichts zu tun haben!
Gudrun Weichselgartner-Nopper, die zwei erwachsene Söhne hat, erklärt es so, wie es Kinder verstehen können. Darum, fährt sie fort, sagten Mütter auch nicht, um die Kinder zu ärgern: „Tu den Ellbogen vom Tisch, mach einen geraden Rücken, rede nicht dazwischen!" Man wolle nur, dass die Kinder gut ankommen, ihre Chancen nicht durch schlechtes Benehmen verringern.
Welche Chancen eigentlich?
Wer ein Kleinkind am Esstisch beobachtet, sieht das Gegenteil von dem, was an diesem Tag von den Grundschülern erwartet wird: Das Essen landet überall, nur nicht im Mund, auf den Köpfen der anderen, auf der Tapete. Warum das Butterbrot auf dem Teller liegen soll und nicht daneben, leuchtet natürlich auch nicht ein. Bei Kleinkindern haben wir Verständnis und (manchmal) Geduld, sie können es nicht besser, sie dürfen das, sollen sogar: das Gesetz der Schwerkraft erkunden, wissen, wie es sich anfühlt, in die Pfütze neben dem umgeworfenen Becher zu patschen.
Doch der zivilisierte Mensch isst anders. Das Gute also sei, meint Gudrun Weichselgartner-Nopper, wenn man Dinge lerne, sobald man sie verstehen und solange man sich schlechte Gewohnheiten noch abgewöhnen könne. Zum Beispiel, was man sagen müsse, wenn man in einen Raum kommt. „Hallo", meint Siri. Romy weiß: „Schönen guten Tag!" Alisan: „Wenn man zum Arzt kommt, den kennt man ja schon, dann sagt man: ,Guten Tag, wie geht es Ihnen?'" Und Herwin: „Wenn man irgendwo hinkommt, wo gar niemand ist, muss man eigentlich niemanden grüßen." Auch wahr.
Sollen sich wirklich schon Zehnjährige wie Erwachsene benehmen? Kleine Klone ihrer Eltern? Und wie finden das deren Großeltern, die einer Anti-Establishment-Generation angehören, und jetzt Enkel haben, die im Sternerestaurant speisen wollen wie die Superspießer? Gudrun Weichselgartner-Nopper jedenfalls ist ausgebucht: Knigge für Kinder und Jugendliche. Seminare in Unternehmen, für Privatgruppen. Wenn, wie an diesem Tag, die Kinder in Klassenstärke kommen, tragen meist die Fördervereine der Schulen die Kosten.
Großstadtfamilien wissen wahrscheinlich besser als alle anderen: Der Wettbewerb kann nie früh genug beginnen. Sind sie es doch, die sich bereits um den begehrten Kitaplatz für die Allerkleinsten kloppen müssen. Und alle wollen irgendwann studieren, im Bewerbungsgespräch punkten. Da kann es doch nie zu früh sein zu wissen, was bei den Erwachsenen gut ankommt. Gudrun Weichselgartner-Nopper sieht es locker und oft mit Humor. Es heiße zwar immer, die Kleinen müssten lernen, „wie sie sich auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegen", es gehe aber nicht um absolute Anpassung gemäß der Etikette, sondern um angenehme Umgangsformen, Höflichkeit, Rücksichtnahme. All das steckt wohl zusammengefasst auch in der Mahnung, die man oft von Eltern auf Spielplätzen hört: „Lieb sein!"
Die Schüler lernen jetzt, wie man eine festliche Tafel deckt und wie man sich in einem vornehmen Restaurant verhält. Schließlich steht bei manchen die Kommunionsfeier an oder der runde Geburtstag des Opas. Überhaupt das gemeinsame Essen: Längst sei das nicht mehr die Regel in den Familien, sagt Gudrun Weichselgartner-Nopper. "Früher hieß es, Benehmen beibringen ist ja Aufgabe der Mutter." Doch heute essen viele Schüler mittags nicht mehr zu Hause. Auch die 24 Kinder vom Seminar besuchen eine Ganztagsschule, nachmittags sind sie im Hort.
Wissen ist besser als Unwissen. Und zum Glück sind Grundschüler, zumindest in klassenzimmerferner Umgebung, so neugierig, dass ihnen alles wertvoll erscheint an diesem Nachmittag. Als würden sie wieder ein kleines bisschen mehr in die Geheimnisse der Erwachsenen eingeweiht. Wer genau weiß, wie weit das Rotweinglas auf der festlichen Tafel vom Messer entfernt stehen muss, gehört eindeutig schon mehr zu den Großen. Die Zehnjährigen sind übereifrig und recken bei jeder Frage den Arm so weit in die Luft, dass es sie fast von ihrem Stuhl reißt. Sie haben Spaß. "Was ich hier lerne, zeige ich zu Hause, und dann müssen die das auch so machen", meint Nico.
Der Gastgeber sitzt immer in der Mitte der Tafel, damit alle etwas von ihm haben, erklärt die Benimmlehrerin. Und dann immer abwechselnd Mann und Frau – die Klasse stöhnt leise auf. Jetzt nur nichts anmerken lassen, wir sind ja erwachsen, scheinen sie zu denken. Weil es nicht aufgeht, müssen manche Damen am Schluss doch an einen reinen Mädchentisch. Sie können sich nicht zurückhalten: "Juhu!" Wer will denn schon neben Jungs sitzen? So etwas können sich nur Erwachsene ausdenken.
"Ich wollte zuerst gar nicht mit hierher", erzählt Romy. Sie habe gedacht, man sitze halt rum und müsse sich blöde Regeln anhören. "Meine Mama hat den Zettel ausgefüllt, und ich wollte ihn zerreißen." Sie zuckt mit den Schultern: "Hab es dann doch nicht gemacht." Siri ist ehrlich: "Mein Vater sagte: ,Das ist so ein edles Hotel mit fünf Sternen, das lässt du dir nicht entgehen.‘"
Die Kellner kommen mit der Flädlesuppe. "Ist die vegan?", fragt Alisan. Wolly möchte keine Suppe. "Doch, bitte probiere die Suppe", sagt die Lehrerin streng. Natürlich schmeckt Wolly die Suppe nicht. Und da muss man jetzt wieder aufpassen. "Ihr sollt nicht von euch aus sagen, wenn ihr etwas nicht gemocht habt", meint Gudrun Weichselgartner-Nopper. Denn: "Takt kennt die Wahrheit, nennt sie aber nicht." Zum Beispiel könne Wolly, wenn er vom Kellner gefragt werde, wie es geschmeckt habe, sagen: "Danke, die Suppe war sehr gut, aber ich bin kein großer Suppenesser."
An diesem Nachmittag im Hotelrestaurant hat man nicht das Gefühl, als hätten diese Kinder einen Benimmkurs nötig. Doch sie lassen sich nichts entgehen, dürfen auch selbst Kellner spielen. Als Hauptgang bekommen sie "Spaghetti mit hausgemachter Strauchtomatensoße und gehobeltem Parmesan". Der Renner ist der Nachtisch mit Pfannkuchen. Sie schlürfen Ginger Ale aus Sekt- und Weißweingläsern. Und Gott sei Dank schlürfen manche wirklich, sonst wäre es fast unheimlich, wie wohlerzogen diese Zehnjährigen sind. Sie erklären, ihr Lieblingsessen sei Sushi, selbst gemacht, mit Gurke und Lachs, oder die frisch geschabten Spätzle vom Papa. "Und wer weiß, was Kaviar ist?" – Fischeier, klar, das wissen viele. "Von welchem Fisch?" – "Vom Stör", sagt Mathis abgeklärt, und manche nicken bewundernd. Mathis zuckt mit den Schultern, als wolle er sagen: "Ja, mein Gott, weiß ich halt."
Das Problem der schwitzigen Hände im Übrigen, so viel verrät Gudrun Weichselgartner-Nopper der Klasse noch beim Abschiedsgruß, lasse sich ganz leicht lösen. Vor dem Händedruck könne man beim Aufstehen unauffällig mit den Handflächen an den Oberschenkeln entlangfahren. "Schon sind die Hände gut!" Das ist praktisch.
Janosch, der Kinderbuchautor, hat mal gesagt, Kind möge er nicht mehr sein, dann habe man es ja mit den doofen Eltern, den Erwachsenen zu tun. Vielleicht müsse man besser von einem Tier großgezogen werden, die wüssten doch eher, wie es geht: "Der Mensch ist eine Sau." Aber eine, die mit Messer und Gabel isst.