Sie können nicht jeden wegsperren
Alexander Lukaschenko hat Belarus in eine Autokratie umgebaut. Wie lebt es sich in so einem Staat? Eine Spurensuche an den Rändern der Gesellschaft: zu Besuch bei einem ehemaligen Journalisten, den drei Mädchen der Punkrockband „Messed Up“ und einem Cannabis-Aktivisten.
singt, oder eher brüllt Igor Bantser, schwarz gekleidet, große „stay-true“-Tätowierung auf dem rechten Handrücken, kaputte Turnschuhe, mit zynischem Grinsen auf einer Seitenstraße im Zentrum der belarussischen Stadt Grodno. Er deutet auf einen imposanten rosafarbenen Altbau und erklärt: „Hinter dieser schönen Kulisse verbirgt sich der fucking KGB.“ Und mit Fingerzeig auf einen Laternenmasten: „Die Kameras sind aber eh überall. We live in a fucking dictature!“
Der 38-jährige, der sich selbst als „fucking Rockstar“ bezeichnet, krakeelt gemäß dem Leitspruch auf seinem Handrücken immer genau das raus, was er denkt: In einem Kiosk meckert er beim Bezahlen des Kaffeepulvers, dass die Preise für das Pulver im letzten Monat von 25 auf 50 Kopeken gestiegen sind: „50 Kopeken for shitty, shitty coffee!“, in einem Bus schimpft er auf den Fahrer, weil der ohne bitte zu sagen nach den Fahrkarten verlangt hat und wird, als ihn eine alte Dame im Pelzmantel ermahnt, leise zu sein, nur immer lauter, schreit: „Warum bitte sollte ich still bleiben? Der Fahrer war unhöflich, da kann ich ja wohl verdammt nochmal Höflichkeit von ihm einfordern!“
Öffentliche Schimpftiraden sind in Belarus, das sich seiner sauberen Straßen rühmt und neben Müll auch keine Obdachlosen und Betrunkenen im Straßenbild duldet, eher selten. Bantser ist es egal, negativ aufzufallen. Dabei war er bereits mehrmals für einige Tage in polizeilichem Gewahrsam. Als Chefredakteur des unabhängigen Magazins Glos und Pressesprecher des mittlerweile verbotenen Teils der Polnischen Union in Belarus, die sich auf die Fahnen geschrieben hatte, die Sprache und Kultur der ca. 400.000 Polen in Belarus zu fördern, ist er als unbequemer Bürger bekannt.
Wie viel Freigeisterei aber duldet Lukaschenkos Demokratur? Eine sechstägige Spurensuche nach den Nischen und Freiräumen in der belarussischen Gesellschaft im Dezember 2018 führt an die Grenze zu Polen nach Grodno zu dem polnischstämmigen Igor Bantser und seinen Freundinnen, den Musikerinnen der feministischen Frauen-Punk Band „Messed Up“ sowie nach Minsk zu dem Aktivisten Piotr Markiełaŭ, der sich mit der Kampagne „Legalize Belarus“ für eine Lockerung der Drogengesetze einsetzt.
Igor Bantser schimpft noch viel über das System an diesem Abend: Die Passanten sehen ihn verwundert an, aber seine Tiraden haben keine Konsequenzen: „Wir sind nicht in Nordkorea“, meint er. „Sie können nicht jeden wegsperren.“ Das autokratische System setze vielmehr auf Einschüchterung und Zermürbung: Verhaftungen erfolgen selten für das eigentliche „Vergehen“. So wurde auch er nie für seine kritischen Texte oder seine Aktivitäten für die Polnische Union, sondern wegen öffentlichen Pöbelns und der Teilnahme an unerlaubten Versammlungen inhaftiert.
Das Pöbeln lässt er nicht bleiben - aber er schreibt keine Artikel mehr und hat auch seine Tätigkeit als Pressesprecher aufgegeben. Seit ein paar Anrufen der Polizei im Jahr 2015, bei denen ihm, wie er sagt, mit Ausreiseproblemen gedroht wurde, widmet er sich nur noch seiner Punkband und hält sich mit Jobs über Wasser - springt mal als Eventtechniker ein, mal als Möbelpacker. Ein Leben am Limit, was sich auch an seinen Turnschuhen zeigt, deren Löcher er im Laufe des Tages mit Klebstoff vom nächstbesten Kiosk zu leimen versucht. Wegen seiner Vergangenheit, meint er, bekäme er keine richtige Arbeit. Er klingt stolz: „Hier als Regimekritiker zu gelten, ist ein Kompliment.“
Um sich nicht verbiegen zu lassen, nimmt er in Kauf, dass die Reichweite seiner Kritik auf einen kleinen Radius zusammengeschrumpft ist und er jeden Tag neu sehen muss, wie er über die Runden kommt. So etwas wie Sozialhilfe gibt es in Belarus nicht. Im Gegenteil: Der Erlass zur „Vorbeugung gegen das Sozialschmarotzertum“ von 2015 legt fest, dass BürgerInnen, die länger als sechs Monate im Jahr arbeitslos sind, für öffentliche Güter zahlen müssen. Wer es sich leisten könne, so lange nicht zu arbeiten, so der Tenor des staatsgelenkten Senders ONT, habe ja anscheinend irgendwo Geld.
„Absoluter Hohn“, meint Bantser, der schon Probleme hat, 50 Kopeken für Kaffeepulver vom Kiosk zusammenzukratzen. Mit seiner Meinung steht er nicht alleine da: Trotz Versammlungsverbots und riesigem Polizeiaufgebot gingen im Jahr 2017 in den Städten tausende Menschen zum „Marsch der erbosten Belarussen“ auf die Straße, um ihre Wut und Verzweiflung über das Gesetz auszudrücken. Auch Bantser und seine drei Freundinnen Lizzy, Marya und Nastya waren dabei.
Im Gegensatz zu Bantser hatten die drei Mädchen bislang noch nie Ärger mit den Behörden und mussten für ihre Ideale auch sonst noch nichts aufgeben. Sie kennen kein anderes Leben als das in der Demokratur. Die drei Mitglieder der 2015 gegründeten weiblichen Punkband Messed Up sind 20 Jahre alt und unter Lukaschenko aufgewachsen. In ihren Ansichten wurden sie jedoch mehr von Igor Bantser und anderen älteren Freunden aus der alternativen Punk-Oi-Szene als von ihren sowjetisch sozialisierten Eltern geprägt: Sie bezeichnen sich selbst als Feministinnen.
In den sozialen Netzwerken und auf ihren Konzerten sprechen sie sich gegen Homophobie, Rassismus, Sexismus und Faschismus aus. Alleine schon die zerschlissene Kleidung der drei Mädchen wirkt inmitten der wie geleckt aussehenden Stadt, in der sogar ein kurz abgestellter Coffee To-go-Becher sofort wie von Zauberhand in den nächsten Mülleimer verschwindet, wie ein Statement. Mit drei Zentimeter kurzen, gelb-blonden Haaren, zerfetzten Jeans mit Sicherheitsnadeln, Boots und Militärparka öffnet Nastya die Tür der staatlichen Musikschule in der Altstadt von Grodno, einem hufeisenförmigen, grauen Bau, verdreht ihre Augen und bittet mit den Worten: „Ich habe so einen Kater, ich habe heute echt keinen Bock auf die Scheiße!“, hinein.
Seit ein paar Monaten unterrichtet sie hier Gesang. Sie wollte nie Lehrerin werden, schon gar nicht an einer staatlichen Schule, konnte sich die Arbeit aber nicht aussuchen: Nach ihrem Musik-Diplom an der Kunsthochschule wurde sie als Gesangslehrerin an die Schule vermittelt: „Die Regierung hat für meine Bildung gezahlt, jetzt muss ich dafür zwei Jahre machen, was sie will“, erklärt sie, während sie einen Korridor mit frisch gestrichenem grünen Boden entlangschlendert, vorbei an vielen gleich aussehenden Holztüren.
Erfahren hat sie von den zwei Jahren Verpflichtung an der staatlichen Schule erst gen Ende des Studiums. Gute Schülerinnen, meint sie, könnten sich ihre Arbeit aussuchen: „Ich war aber keine gute Schülerin und mit der Jungen Union habe ich auch nichts am Hut.“ Die Junge Union, mit vollem Namen „Weißrussische Republikanische Junge Union“, ist die von Lukaschenko 2002 gegründete und treu zu ihm stehende Nachfolgeorganisation des Komsomol, der kommunistischen Jugendorganisation der UdSSR: Ohne Zugehörigkeit keine Chance auf Karriere.
Am liebsten würde Nastya einfach nur Musik machen. In Belarus aufzutreten aber ist für sie und ihre Bandkolleginnen genauso schwierig wie für Igors Punkband Mr. X: Die Abteilung für Ideologie, Kultur und Jugend, so erzählt Igor Bantser, lasse sich die Namen der Bands und die Titel der Songs vorlegen. Eine Gruppe mit dem Namen Messed Up, zu Deutsch: versaut, deren Mitglieder weiblich, tätowiert und gepierct sind, bunte Haare haben und grölen, passe nicht ins ideologische Konzept. „Es gibt nur wenige Bars, denen alles egal ist, die einen ohne Genehmigung spielen lassen. Wenn aber Eintritt verlangt wird, kann die Polizei kommen und abkassieren“, erklärt Nastya. Auf illegales Performen stehen Bußgelder von umgerechnet bis zu 1000 Euro – ein Vierteljahr Durchschnittsgehalt. Die Messed Up-Mädchen lassen sich von den Bußgeldern nicht abschrecken. Sie spielen hauptsächlich im Ausland, in Polen, Russland, der Ukraine oder auch in Deutschland. Im Sommer 2018 traten sie unter anderem auf dem Festival „Feministisch kämpfen“ in Berlin auf. In Belarus hatten erst sechs Gigs. Bei einem unerlaubten Auftritt erwischt wurden sie bislang nicht.
Nastya öffnet eine Tür. In einem kleinen Raum mit Blick auf den Hof warten bereits ihre Schülerinnen, zwei etwa zehnjährige Mädchen mit festlichen Flechtfrisuren, geschminkten Lippen und Absatzschuhen. Die eine im pinken Kleid mit Glitzerpartikeln, die andere in einem kurzen Schwarzen aus Spitze. Die beiden bereiten sich auf einen Schulauftritt vor. Nastya begleitet sie an einem Flügel mit selbstgebastelten Papiersternen drauf und gibt ihnen Töne vor. Dann stellt sie am Computer einen Beat an, steckt ein Mikrofon ein und reicht es den Mädchen. Eine der beiden tritt vor und flüstert: „Mein Name ist Alissja, ich...“ Nastya schneidet lustige Grimassen und ruft: „Los, lauter, trau dich!“ Alissja wiederholt den Text und macht ein paar gequält aussehende Moves.
Noch vor ein paar Jahren, so zeigt ein Blick in Nastyas Instagramm-Account, war die 20-Jährige selbst wie Alissja: schüchtern und darum bemüht, zu gefallen. In einem Schnellimbiss in einem Park zeigt sie bei ein paar mitgebrachten Chips ihren Instagram-Account: Auf alten Aufnahmen posiert sie in hautenger Kleidung, geschminkt: „Puppenhaft, so wie es eben erwartet wird“, meint sie und streckt die Zunge raus: „Mädchen sollen schön sein, Frauen Gebärmaschinen.“ Sie bezieht sich auf eine Radioansprache, in der Lukaschenko 18- bis 19-jährigen Mädchen riet, lieber Kinder zu kriegen, als weiter die Schulbank zu drücken. Und auf die Plakate der Organisation Pro Life, die überall in der Stadt hängen und sie daran erinnern, was von ihr erwartet wird: Embryobilder verschiedener Entwicklungsstadien mit Erklärungen dazu, darunter der Slogan: „Mama, treib mich nicht ab.“
Bis zu sechs Kinder soll jede Frau laut Lukaschenko bekommen, ab dem dritten gibt es staatliche Unterstützung. Bis vor ein paar Jahren, meint Nastya, habe sie das nicht hinterfragt: „Ich komme aus einem sehr traditionellen Elternhaus.“ Ihre Mutter hatte neben ihr, der einzigen leiblichen Tochter, noch fünf Kinder zur Pflege und lebte ihr ein klassisches Frauenbild vor. „Mit 16,“ erzählt Nastya, „kam ich mit der Bibel im Gepäck vom Dorf in die Stadt an die Kunsthochschule.“ Sie grinst: „Hier wurde ich mit viel Wodka nach und nach politisiert.“
Ihre erste Berührung mit Feminismus war eine Femen-Aktion 2011. Im ukrainischen Fernsehen habe sie gesehen, wie drei Femen-Aktivistinnen vor dem KGB-Gebäude in Minsk blankzogen, um für die Freiheit politischer Gefangener in Belarus zu demonstrieren: „Als sie erzählten, dass sie daraufhin verschleppt und mit Öl übergossen wurden, taten sie mir leid, aber ich habe ihren Protest nicht ganz ernst genommen. Ich dachte nur, was sollen blanke Brüste bringen?"
Sie begann, sich mit Feminismus zu beschäftigen: „Da habe ich verstanden, dass diese Frauen cool sind, weil sie sich für ihre Meinung einsetzen.“ Selbst wollte sie sich lange nicht als Feministin bezeichnen: „Zum einen, weil der Begriff negativ besetzt ist, zum anderen, weil ich keine Aktivistin bin. Aber jetzt ist es mir egal. Ich bin Feministin, weil ich für gleiche Rechte und Pflichten, für gegenseitigen Respekt und für die Beseitigung jeglicher Diskriminierung einstehe.“ Feminismus bedeute für sie vor allem die Arbeit an sich selbst. Mit 17 rasierte sie sich die Haare ab: Weil sie der Druck schön auszusehen „angekotzt“ habe. Ihre Mutter habe geweint, ihr Vater Bibelverse geschickt. Mittlerweile aber akzeptieren ihre Eltern sie so, wie sie ist: „Mit allen meinen Tätowierungen.“
Und ihre Kolleginnen an der Schule? „Die checken nicht, dass mein Äußeres ein Statement ist, sondern denken, ich sei halt modeaffin. Bei den großen Ketten sind Feminismus-Slogans und zerfetzte Sachen doch schon lange im Trend!“ Selbst auf der Arbeit sei ihr Aussehen egal, solange sie allen Anweisungen folge: „Aber wenn sie einmal einen Vorwand brauchen, mich loszuwerden, können sie alles gegen mich verwenden.“ Bislang habe sie erst einmal Ärger bekommen: „Dafür, dass ich meinen Schülerinnen russische Rocksongs beigebracht habe.“ Das sei nichts für Kinder, habe ihr Chef gesagt. Die sollten sich erst einmal mit patriotischer Musik beschäftigen.
Lizzy, die Gründerin der Frauenpunkband Messed Up, lange braune Haare, kurzer Jeansrock, und Gitarristin Masha, pinke Doc Martens, pinkfarbene Haare, kommen in den Imbiss dazu, um mit Nastya über die Zukunft der Band zu reden: Den Mädchen ist die Drummerin abgesprungen. Im vergangenen Sommer erst haben die Mädchen zu viert ihr erstes Album aufgenommen, 2019 wollten sie mit der Band durchstarten. Lizzy meint: „Eine neue Drummerin zu finden wird schwer. Erstens gibt es hierzulande nicht viele Frauen, die Drums spielen. Zweitens sind wir weit mehr als eine Band. Wir teilen eine Haltung gegenüber den Dingen und setzen uns mit unserer Musik für sie ein.“
Während die Mädchen in dem kleinen Imbiss über die Zukunft der Band diskutieren, bittet ein verwahrlost aussehender Mann vor der Tür Passanten um Zigaretten. Beim Rauchen räumt er mit größter Selbstverständlichkeit die Außentische ab und wischt sie anschließend hingebungsvoll mit einem Stofftaschentuch sauber. Der Mann, der den Betreibern des Imbisses scheinbar ungebeten die Arbeit abnimmt, ist nur eine von vielen Beobachtungen in Belarus, die Fragen aufwerfen.
In der Hauptstadt finden sich noch viel mehr sichtbare Widersprüche als im beschaulichen Grodno: Oberflächlich betrachtet erwecken die breiten, stalinistischen Alleen in Minsk den Eindruck, man befände sich hier in einem Museum der Sowjetunion. Doch bei genauerem Hinsehen stellt man schnell fest, dass die Stadt sehr wohl im globalisierten 21. Jahrhundert angekommen ist. Gerade im Zentrum zeigt sich, dass Lukaschenko sein Land nicht nur gen Osten, sondern auch gen Westen geöffnet hat: In der Innenstadt prangen bunte Lichter an den grauen Fassaden, neben Gebäudeinschriften zur Erinnerung an die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges wie „Das Heldentum des Volkes ist unsterblich“ befinden sich kapitalistische Ketten wie Kentucky Fried Chicken.
Hier, 272 Kilometer Luftlinie von Bantser und den Mädchen entfernt, erzählt Piotr Markielaŭ, Brille, Zopf, schwarzes T-Shirt mit weißem Piece Love Liberty-Aufdruck, im Coffeeshop „Wake up coffee“ von seiner Mission: Der Mitbegründer der belarussischen Menschenrechtsorganisation Dzieja setzt sich mit der Kampagne „Legalize Belarus“ für eine Aufklärung über psychoaktive Substanzen und die Entkriminalisierung des Besitzes geringer Mengen von Weichdrogen ein.
Ein Cannabis-Aktivist in Belarus klingt erst einmal absurd. Zum einen, weil das Land mit der Todesstrafe weitaus größere Menschenrechtsprobleme zu haben scheint als eine harte Handhabe von Drogen. Zum anderen, weil der Konsum von Weichdrogen nicht einmal in liberaleren Ländern legal ist. Piotr Markielaŭ aber hält die Drogengesetze für eines der größten Probleme seines Landes, da er meint: „Vergehen, die keine Opfer haben, sollten nicht so hart bestraft werden.“
Er erklärt: „Der Paragraph 328, der den Besitz und Konsum von Drogen in unserem Strafgesetzbuch regelt, unterscheidet nicht zwischen harten und weichen Drogen.“ Im Gesetztext heißt es: „Die Herstellung, Verarbeitung, Beschaffung, Einlagerung oder Beförderung illegaler Stoffe wird mit zwei bis fünf Jahren Gefängnis geahndet.“ Heißt: Auch auf Konsum von Weichdrogen steht eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren. Markielaŭs Kritik gilt weniger dem Paragraphen selbst als seiner Auslegung: „Die Polizei kann Menschen unter Berufung auf den Paragraphen einfach mitnehmen.“ Die Gerichte, meint der Aktivist, hielten sich oft nicht an die Beweislast, Strafen würden ohne ausreichende Beweise für die Schuld verhängt: „Dazu wird Drogenverteilung wörtlich genommen.“ Das bedeute, dass das Verteilen einer Arzneimitteldosis oder das Teilen von Drogen bereits als Dealen gelte. Circa 16.000 Menschen, schätzt er, befänden sich wegen Verstoßes gegen das Gesetz im Gefängnis oder in temporärer Verwahrung, darunter viele Kinder: Das Haftungsalter wurde auf 14 Jahre gesenkt.
Der Aktivist spricht energisch gegen das laute Brummen der Kaffeemaschine im Hintergrund an. Er scheint sich in der Rolle des Revoluzzers wohlzufühlen. Seine politischen Aktivitäten, erzählt er voller Stolz, hätten ihn sein Studium gekostet: „Bis 2016 habe ich Physik studiert, dann wurde ich unter fadenscheinigen Begründungen von der Universität verwiesen.“ Offiziell wegen verpasster Stunden: „Ab vier verpassten Stunden darf die Universität Studenten freistellen. Andere mit mehr unentschuldigten Fehlstunden sind aber weiterhin eingeschrieben.“ Den wahren Grund seiner Freistellung vermutet in einer Kritik an der Universität: „Ich habe den Dekan gebeten, die sowjetische Flagge und die Stalinbilder im Flur abzunehmen.“ Er nimmt einen Schluck Kaffee: „Eine staatliche Universität, die von Steuergeldern finanziert wird, sollte politische Morde nicht normalisieren.“
Zu seiner eigenen Meinung zu stehen, wurde in Markielaŭs Familie großgeschrieben: „Meine Eltern waren früher sehr politisch. Nach der Wahl 2006 haben sie resigniert, aber sie haben mich auf das Gymnasium 23 geschickt, eine von acht Schulen, in denen der Unterricht auf Weißrussisch stattfindet.“ Mittlerweile sieht der ehemalige Student seinen Aktivismus als Berufung. Seinen Lebensunterhalt verdient er als freier Fotograf: „Damit bin ich unabhängig. Ich werde keine Rente bekommen, aber kann mich dafür davor drücken, diesen Staat mit Steuern zu unterstützen.“
Auch er war 2017 bei den Demonstrationen gegen das Sozialschmarotzergesetz dabei: „Da wurde ich verhaftet, weil ich angeblich eine Maske getragen habe.“ 72 Stunden befand er sich mit sechs anderen in einer Zelle: „Die Laken und Handtücher waren voller Rotz, Spermien und anderer Körperflüssigkeiten. Und das Essen wurde uns wie Hunden dreimal kurz nacheinander zum Fraß vorgeworfen, damit sie Besteck und Teller nicht zweimal ausgeben und abwaschen müssen.“
Vor dem Café dreht sich Piotr Markielaŭ eine Zigarette. Während er raucht, holt er ein paar Hanf-Aufnäher aus seinem Rucksack. Auf die Frage, was seine Eltern dazu sagen, dass er als Cannabis-Aktivist auftritt, antwortet er mit einem breiten Grinsen: „Die nehmen das locker. Sie haben auch schon einen Joint mit mir geraucht.“ Er drückt seine Zigarette fein säuberlich in einem Aschenbecher aus und macht sich auf den Weg zum wenige Häuser entfernen Press Club: Dort findet an diesem Abend eine Veranstaltung zur Zensur in Belarus statt.
So unterschiedlich die Biographien von Piotr Markielaŭ, Igor Bantser und den Mädchen sind: Sie alle fühlen sich trotz aller Widrigkeiten wohl in Belarus und verneinen die Frage, ob sie das Land verlassen würden. Bantser, der mit seinem polnischen Pass jederzeit ausreisen könnte, meint: „Ich werde einen Teufel tun. Das ist es doch, was sie wollen. Ich habe hier Freunde und Familie.“ Markielaŭ meint: „Was soll ich woanders? Das ist mein Land, hier bin ich zu Hause. Und ich kann hier etwas bewirken. Die Leute haben begonnen, über die Drogengesetze zu reden. Alleine mehr Aufmerksamkeit dafür zu schaffen, dass Unrecht geschieht, macht es wert, hier zu bleiben.“ Dabei macht sich der 24-Jährige wenige Illusionen: „Alleine durch ein Verschwinden Lukaschenkos würde sich wenig ändern. Wir leben in einer posttotalitären Gesellschaft. Die Strukturen sind verkrustet.“
Die Musikerinnen von „Messed Up“ leben im Hier und Jetzt. Sie können sich die Zukunft nicht vorstellen: „Vielleicht führe ich eines Tages ein Selbstversorgerleben auf dem Land“, meint Nastya. Gitarristin Marya sagt: „Es wird sich nichts ändern: Ich werde weiter bei Punkkonzerten rumhängen und Bier an der Bar trinken.“ Lizzy, die neben der Band Medizin studiert, ahnt, dass sie sich zwischen Arztberuf und Musikerinnendasein entscheiden muss: „Mein Herz schlägt definitiv für den Punk.“
Zum Original