Es war eines der größten Bauprojekte der Nachkriegsjahre, entsprechend groß war die Euphorie. Von einem „Symbol für die Wiedergeburt Kassels" sprach 1955 der damalige Oberbürgermeister Lauritz Lauritzen. In der Tat war der Bau der Gartenstadt Auefeld 1955 ein wichtiges Signal dafür, dass Kassel wieder auf die Beine kam. Im gleichen Jahr, in dem auf den Kriegstrümmern die Bundesgartenschau und auch die erste documenta stattfanden, errichteten hunderte von Handwerkern einen neuen Stadtteil für 2500 Menschen.
Als Auefeld wird in Kassel das Areal bezeichnet, das von der Frankfurter Straße im Osten, von der Ludwig-Mond-Straße im Westen und von der Tischbeinstraße im Norden in der Form eines Dreiecks eingerahmt wird. Die Gartenstadt Auefeld, um deren Erbauung und einzigartigen Charakter es hier geht, ist ein Teil davon. Sie reicht im Norden bis an die Heinrich-Heine-Straße. Im Westen bildet die Belgier-Siedlung einen Winkel, dessen Bebauung etwas älter, architektonisch aber ähnlich ist. Die obere Karte soll einen groben Überblick über das Gelände bieten. Am Ende dieses Beitrags finden Sie einen ausführliche Karte, in der Sie die Gartenstadt Auefeld und die Belgiersiedlung erkunden können.
"Die glücklichsten Stunden unseres Lebens hatten wir im Auefeld", sagt Wolfgang Schubotz, wenn er heute an die Zeit in den 1950er- und 1960er-Jahren zurückdenkt. Schubotz, 89 Jahre alt, lebt heute mit seiner Frau Elke (77) im Kasseler Stadtteil Harleshausen. Damals gehörte er jedoch zu den ersten Bewohnern in der neu entstehenden Auefeldsiedlung.
Im September 1956 kam der Bescheid, dass der damals 30-jährige Witwer mit seinen drei Kindern in das Haus an der Hans-Böckler-Straße 37 einziehen könne. Einige Wochen später wohnten sie bereits dort. Es war eines der ersten Gebäude, die im neu erschlossenen Baugebiet zwischen der Ludwig-Mond-Straße und der Heinrich-Heine-Straße fertig wurden. "Es war ein absolutes Glücksgefühl", beschreibt Schubotz den Moment. Zum ersten Mal seit dem Krieg hatte er ein Zuhause in seiner Heimatstadt.
Dass das möglich wurde, war nicht selbstverständlich. Interessenten für die neuen, modernen Häuser im Auefeld gab es reichlich. Schubotz war damals ein junger Lehrer an einer Schule in Hofgeismar. Monatsgehalt: 450 Mark. Kosten für das Haus: 24.000 Mark. Unerschwinglich! Die Finanzierung eines solchen Eigenheims musste damals zu einem Teil über ein Zwangsdarlehen in Höhe von 16.000 Mark erfolgen. Die restlichen 8000 Mark mussten als Eigenkapital aufgebracht werden. "So viel Eigenkapital aufzubringen war damals für alle ein großes Problem", erinnert sich heute der 89-Jährige.
Einen Teil der Lösung lieferte ein anderes Gebäude: das Elternhaus im Kasseler Stadtteil Rothenditmold. In der Bombennacht 1943 war es niedergebrannt. Die Mutter bekam als Eigentümerin einen Lastenausgleich für zerbombte Gebäude in Höhe von 5000 Mark. Das übertrug sie auf Sohn Wolfgang. Die restlichen 3000 Mark kamen vom Land Hessen. Schubotz war als Lehrer im Interesse des Dienstes an die Agathofschule in Kassel-Bettenhausen versetzt worden, wohnte aber noch in Hofgeismar. Da er aus beruflichen Gründen pendelte, bekam er die Fahrtkosten erstattet. An die Stelle dieser Zahlung trat eine Hilfe, sich am Arbeitsort eine Unterkunft zu erwerben, was auch der beruflichen Residenzpflicht entgegenkam. "So wurde ich als 30-Jähriger ohne Eigenkapital Eigentümer eines Hauses", blickt Schubotz zurück. Er war damals einer der jüngsten Hauseigentümer im Auefeld. Viel Hilfe und Unterstützung erhielt er von den Mitarbeitern der Wohnungsbaugesellschaft Gewobag, die heutige GWH. Noch heute ist er dankbar für die unbürokratische und freundliche Betreuung.
„Wir erhielten kurz vor Einzug den Bescheid, dass wir schon mal Tapeten kaufen und sie in die Zimmer legen sollten", berichtet Schubotz. „Bei der Schlüsselübergabe war dann alles fix und fertig, die Wände tapeziert, der Boden gebohnert. Mit Handwerkern hatten wir kaum noch was zu tun".
Die Handwerker hatten ihre Arbeit zuvor schon erledigt - im Akkord und teils buchstäblicher Fließbandarbeit. Zu diesen Handwerkern gehörten der Maurerlehrling Walter Hellwig (heute 77 Jahre alt) und Maurergeselle Hilmar Mergard (80). Beide wohnen in Niestetal und waren seit 60 Jahren nicht mehr im Auefeld. Beim Ortstermin an der Eberhard-Wildermuth-Straße und dem kleinen Abzweig Am Garten erkennen sie trotzdem vieles wieder. Sechs Häuser haben sie hier gemauert, sind jeden Tag mit dem Fahrrad von Heiligenrode zur Arbeit gefahren.
„Die Decken, das waren Fertigteile", erinnert sich Walter Hellwig. Für die Baufirma Thomé, die ihren Sitz an der Wilhelsmshöher Allee hatte, haben sie gearbeitet. Auch am Auestadion, das zwei Jahre vorher fertig wurde. Der spätere hessische Ministerpräsident Holger Börner war damals noch Bauarbeiter und ein Kollege. Kaum technische Hilfsmittel habe es damals gegeben. „Alle Gerüste waren noch aus Holz", sagt Hilmar Mergard. Auf der Großbaustelle gab es viel zu tun. Zwei der großen Mehrfamilienhäuser in der Auefeldsiedlung habe die Firma Thomé gebaut. Einen strengen, aber gerechten Polier hätten sie damals gehabt. Mehr als eine Flasche Bier pro Tag habe der nicht rausgerückt.
Georg Hempel, 79, war Schreinergeselle und bei den Schreinerwerkstätten Oetken (Mönchebergstraße in Kassel) beschäftigt. Er erinnert sich: „Wir bauten seinerzeit hunderte von Türen ein. Ein Handwerker stand damals dem anderen im Wege. Der Maurer hatte die Innenwand gerade fertig gemauert, da setzten wir bereits ganz vorsichtig die Tür ein, damit die Wand nicht umstürzte. Dann kam auch schon der Fliesenleger Gerhard Pils (ehemaliger Fußballer des KSV Hessen Kassel), der bei der Firma Ritter beschäftigt war, und sagte zu mir: Du musst immer erst die Badtür einsetzen, damit ich meine Fliesen legen kann. Er arbeitete im Akkord und konnte so in einem Zug ohne Nacharbeiten sein Werk verrichten. Wir setzten dann in jedem Haus zuerst die Badtür ein und wurden dadurch gute Freunde. Der Zeitdruck war groß, aber das Schlimmste war der Außenbereich. Soweit das Auge reichte nur Wasser und Schlamm. Keine Straße war fertig und nur mit Gummistiefeln konnten wir von Haus zu Haus gelangen."
Wasser und Schlamm gab es im Auefeld reichlich. Das Gebiet wurde vor der Bebauung in den 1950er-Jahren landwirtschaftlich genutzt, erklärt der Autor und Kassel-Chronist Heinz Körner. Die Kleingartenanlage Auefeld war dort, es gab auch einige Teiche, das Gebiet war etwas sumpfig. Eine Filmaufnahme aus dem Archiv von Werner Kossin zeigt von der heutigen Ludwig-Mond-Straße aus, wie frei die Fläche, auf der später die Gartenstadt Auefeld entstand, in den 1930er-Jahren war.
Da die Bebauung der Südstadt in der Frankfurter Straße erst gegen 1890 begann, war die Stadt laut Körner daran interessiert, dass das Frankfurter-Tor-Viertel, wie die Südstadt damals hieß, zuerst erschlossen wird - eine geschlossene Bebauung bis Niederzwehren. Deswegen bekamen Sigmund Aschrott und andere Baulöwen keine Baugenehmigung. Die Erschließung des Auefeldes blieb zunächst liegen. Das Standortlazerett an der heutigen Heckerstraße stand damals allein auf weiter Flur. Konkrete Baupläne für Wohnhäuser wurden 1936 vorgelegt, wanderten jedoch wegen des Zweiten Weltkriegs in die Schublade, so Körner. "Nach dem Krieg war man froh, dass es ein großes, freies Gelände gab, das nicht in Trümmern lag. Dort konnte frei gebaut werden und Architekten konnten sich verwirklichen."
Auch die Familie Schubotz wohnte in einem Haus "Typ G", entworfen vom Architekten Heinz Graaf. "Das Haus war wunderbar", schwärmt Schubotz. Für heutige Verhältnisse sei es ein bisschen eng, aber für die damalige Zeit ideal. "Die Zimmer waren gut geschnitten, sodass man gut Möbel aufstellen konnte. Die 78 Quadratmeter waren optimal ausgenutzt." Von vorne habe das Gebäude wie eine Gartenhütte ausgesehen, von hinten erschien es aber groß, erinnert sich Schubotz' Sohn Karl-Walter (62). Die Wärmedämmung sei zwar fast Null gewesen, aber in den 60ern wäre woanders auch nicht besser gebaut worden.
Das Haus Typ G hatte drei Wohnebenen, wie der Querschnitt im linken Teil des Bildes zeigt.
Karl-Walter Schubotz erinnert sich: "Wenn man durch die Tür reinkam, befand man sich im zentralen Treppenhaus auf einem Zwischenpodest. Von dort ging es gleich links in das kleine Kinderzimmer und nach rechts ins Badezimmer. Dieser Bereich ist im oberen Teil der rechten Skizze zu sehen. Diese Räume waren unterkellert. Geradeaus führte eine kürzere Treppe nach unten ins eigentliche Erdgeschoss mit Wohnbereich, Küche, Essbereich und Ausgang vom Wohnzimmer über kleine Veranda zum Garten (dieser ist im rechten Teil der Abbildung unten zu sehen, der Garten ist mit "lo", was für "Loggia" (Freisitz) steht, gekennzeichnet). Rechts geradeaus führte eine etwas längere Treppe nach oben ins eigentliche Obergeschoss mit großem Kinderzimmer und Elternbereich (mittlere Darstellung im Bild). Durch die unterschiedlichen Dachneigungen (nach vorn 35 Grad, hinten 12 Grad) gab es nur im vorderen Bereich über Bad und kleinem Kinderzimmer zwei als Stauraum gedachte Bodenkammern (in der Skizze mit "bo" gekennzeichnet). Dort konnte man reinklettern und gut sitzen aber nicht stehen."
Aus seinem Zimmer hatte Karl-Walter Schubotz, damals im Grundschulalter, einen Blick bis in die Söhre und konnte sogar ein Stück weit ins Auestadion blicken. "Wenn viele Zuschauer auf den Rängen waren, hieß es, dass ein bedeutendes Spiel stattfand. Dann bin ich gleich ins Stadion gerannt", sagt er.
Als die Schubotz' im Auefeld ankamen, waren sie schon da: Die Familien der in Kassel stationierten belgischen Soldaten, die bis 1969 in der Belgiersiedlung am westlichen Rand des Auefelds lebten.
Zwischen der Ludwig-Mond-Straße und der Heinrich-Heine-Straße entstand 1952 in einer aus heutiger Sicht unglaublichen Geschwindigkeit die Belgische Siedlung. Nach Plänen der Kasseler Architekten Paul und Theo Bode - zwei Brüder des documenta-Gründers Arnold Bode - wurden in nur 90 Tagen 103 Häuser hochgezogen.
„Die waren vom Lampenschirm bis zu den Gardinen alle gleich eingerichtet", sagt Werner Kossin (75), der ganz in der Nähe groß geworden ist. Die belgischen Offiziere und ihre Familien seien mit wenigen Koffern eingezogen, selbst Handtücher und Bettwäsche stellte das Militär.
Mit dem Einzug der belgischen Soldaten veränderte sich das Quartier. „Unser Metzger bot auf einmal Miesmuscheln an, weil die Belgier die gern aßen", erinnert sich Kossin. Ansonsten gab es jede Menge landestypische Lebensmittel im eigenen belgischen Kaufhaus. Dort, wo heute die Hospitals Kellerei an der Heinrich-Heine-Straße Wein verkauft, befand sich das Geschäft. Selbst eine eigene Schule hatten die Belgier. Das Gebäude an der Adolfstraße wurde im Laufe der Jahre erweitert und wird heute von der August-Fricke-Schule genutzt.
Zeitzeugen wie Werner Kossin (75), der einen Film über die belgischen Soldaten gemacht hat, erinnern sich noch an deren Hilfsbereitschaft. Besonders bei Anfragen von Vereinen hätten die Pioniere schnell und unbürokratisch geholfen. Mit schwerem Gerät übernahmen sie zum Beispiel den Erdaushub für das frühere Schwimmstadion am Auedamm. Der Feuerwehrverein ist heute noch froh über die Bootsrampe, die die Belgier auf dem Gelände an der Giesenallee gebaut haben. Auch die Stadt habe bei Abbrucharbeiten gern die Hilfe der belgischen Sprengstoffexperten in Anspruch genommen. Auch Autor Heinz Körner betont das positive Auftreten der Belgier.
Im Stadtbild waren die Belgier auch bei Paraden präsent, die unter anderem vor der Orangerie, auf der Hessenkampfbahn und auf der Wilhelmshöher Allee stattfanden. Mehrfach kam König Baudouin zu Truppenbesuchen.
Für Familie Schubotz in der Hans-Böckler-Straße spielten die Belgier anfangs keine besondere Rolle. „Sie blieben eher unter sich", erinnert sich Wolfgang Schubotz. Auch die flämische Sprache der Familien stellte eine Barriere dar. „Sie störten uns nicht und wir störten sie nicht", beschreibt Schubotz die Anfangszeit des Zusammenlebens. Später sei der Umgang lockerer geworden. Deutsche und belgische Jungs spielten Fußball, es wurden „Länderspiele" veranstaltet. Der Nachbarschaftsgedanke des Auefelds machte auch vor Nationalitäten keinen Halt.
Die beim Einzug vierköpfige Familie Schubotz wuchs schnell. 1960 lernte Wolfgang Schubotz seine heutige Frau Elke kennen, im selben Jahr heirateten sie - natürlich im Auefeld. Schubotz arbeitete inzwischen als Lehrer an der neuen Auefeldschule. Eigentlich sollte die Hochzeit, die am ersten Tag der Sommerferien stattfand, ohne große Aufmerksamkeit stattfinden. Der Schulhausmeister hatte jedoch bei der direkt neben der Schule gelegenen Markuskirche davon erfahren. Am Tag der Vermählung erwartete eine riesige Gästeschar das Brautpaar. Eine große und angenehme Überraschung - vor allem für die Braut, die erst einige Tage davor aus dem Schwarzwald ins Auefeld gezogen war.
Nachbarschaft, Zusammengehörigkeit, guter Umgang: Das zeichnete das damalige Leben in diesem Teil des Auefeldes aus. "Wir waren aus Hofgeismar ein kleinstädtisches Umfeld gewohnt", erklärt Wolfgang Schubotz. "Und genau das fanden wir im Auefeld wieder. Es war ein großes Dorf, obwohl wir mitten in der Großstadt waren." Ein sehr geselliges Leben sei es gewesen, die Nachbarn kannten sich gut. Auch die Beziehung der Bewohner zur Auefeldschule, deren Leiter Schubotz bald wurde und bis zur Pensionierung blieb, war harmonisch. Das Schulfest war wie ein Volksfest fürs Auefeld.
Für Kinder war die ganze Siedlung ein Paradies. Es wimmelte geradezu von ihnen. Allein die Häuser in der Hans-Böckler-Straße waren so bewohnt, dass es dort um das Jahr 1960 etwa 80 Kinder gab.
Auch Familie Schubotz bekam in der Hans-Böckler-Straße noch zwei Mal Nachwuchs. Zu siebt wohnten sie dann auf den 78 Quadratmetern ihres Vier-Zimmer-Hauses. Das war letztlich auch der Grund, warum sie das Auefeld verließen. "Wir haben sehr lange überlegt und uns sehr schwer getan mit dem Ausziehen", erinnert sich Wolfgang Schubotz an die schwere Entscheidung. Doch es gab keine Alternative. Die Familie war zu groß geworden. 1971 ging es nach Harleshausen. Das "Glücksgefühl unseres Lebens" hatten die Schubotz' jedoch im Auefeld.
Fotos: Lengemann/Kossin/Becker/Schubotz/Klement/Maier
Wer war Hans Böckler? Wer war Eberhard Wildermuth? In der Karte verbergen sich Hintergründe zu den Namensgebern aller Straßen in der Gartenstadt Auefeld. Klicken Sie auf eine Straße, um mehr zu erfahren. Informationen gibt es außerdem zu den durch Symbole gekennzeichneten Orten.