Die Zahl psychischer Erkrankungen in Berlin steigt. Zum Vorjahr legten sie laut Techniker-Krankenkasse um 3,2 Prozent zu. Stress im Büro, Angst um den Arbeitsplatz, Ärger in der Familie.
Drei Tage pro Jahr ist jeder Berliner im Durchschnitt wegen psychischer Probleme krankgeschrieben. Der Ansturm auf Behandlungsplätze in der Psychiatrie wird deshalb immer größer.
2150 solcher Plätze gibt es in der Stadt. In über 20 Stadtteilen existieren Anlaufstellen für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Frauen-Krisendienste oder psychiatrische Intensivbehandlungen. Die Nervenklinik der Charité in Mitte ist solch ein Ort.
Im Garten der psychiatrischen Einrichtung der Charité kniet Guido Meyer (44) neben einem Hund. „Spookie heißt er", erzählt Meyer und streichelt das Tier. Hinter ihm das großes Gebäude der Klinik mit hohen Fenstern - aber ohne Gitter. „Viele Patienten vertrauen sich dem Hund an und erzählen ihm ihre Probleme. Er bildet ein Brücke zwischen uns als Pflegern und unseren Patienten."
Guido Meyer ist pflegerischer Leiter der Station 155. Das ist eine der geschützten Abteilungen der Psychiatrie der Charité. 1887 als „Privat-Irrenanstalt" gegründet, hat sich neben dieser grausamen Bezeichnung einiges grundlegend geändert. Heute spricht man von „geschützter Einrichtung".
Meyer erklärt: „Den Begriff geschlossen benutzen wir nicht mehr. Wir reden von ,geschützt', weil wir die Patienten beschützen wollen. Manchmal auch vor sich selbst. Das geschieht insbesondere bei selbstverletzendem Verhalten oder Suizidversuchen. Wir schließen aber keinen weg!"
Für viele ist die Station überlebenswichtig. Schwerpunkt der Arbeit: affektive psychische Störungen wie zum Beispiel Schizophrenie.
Seit 20 Jahren ist Meyer jetzt schon Krankenpfleger. Ein Vorfall während seiner Ausbildung in der Altenpflege prägte ihn. Bei einer Patientin wurden damals Selbstmordabsichten nicht erkannt. Wenig später stürzte sie sich aus dem Fenster. Meyer will nun anderen Menschen helfen, die alleine keinen Ausweg mehr für sich sehen.
Insgesamt umfasst die Nervenklinik fünf Stationen mit 56 Behandlungsplätzen. Davon eine Tagesklinik und zwei geschützte Einrichtungen.
Die Station 155 ist bewusst sehr offen angelegt. Ein Garten zum Spazierengehen, 16 Übernachtungsplätze - Männer und Frauen getrennt. Die Flure sind weiß gestrichen, alles wirkt sehr ruhig, entspannend. In einem Aufenthaltsraum gibt es Fernseher, DVDs, Bücher und Spiele. Selbst ein Klavier steht an der Wand. Jedoch ist es verstimmt. „Geld zum Stimmen haben wir leider nicht ..."
Auch Hund Spookie ist ein Segen. „Bevor wir ihn vor sieben Jahren bekamen, war die Stimmung hier viel aggressiver." Jetzt ist er Zuhörer - vor allem für neue Patienten.
„Oft bringt die Polizei auch Personen, die sich in der Öffentlichkeit verhaltensauffällig gezeigt haben. Hierbehalten können wir diese auf Dauer nur mit einem Gutachten des sozial-psychologischen Dienstes und mit richterlichem Beschluss", sagt Guido Meyer.
Die Ausgangstür der Station ist aber nicht verschlossen. „Wir hatten noch nie Leute, die eingewiesen wurden und dann versucht haben zu fliehen. Die meisten kommen sogar freiwillig, um sich helfen zu lassen."
Und die Zahl der Hilfesuchenden wächst. Die Kapazitäten der Behandlungsplätze alleine in der Charité sind immer zu hundert Prozent ausgelastet. Für mehr Plätze und Personal ist oft kein Geld da. „Hilfesuchende Patienten dürfen wir dennoch nicht abweisen."
Guido Meyer musste auf seiner Station aber auch schon Extremfälle miterleben. Patienten, die Wände bemalten oder während eines Wutanfalls randalierten. Leute, die stundenlang geschrien haben und sich nicht mehr unter Kontrolle hatten.
„Am wichtigsten ist dabei die Kontaktaufnahme!", erklärt er. „Und sollte das nicht helfen, bringt es schon viel, den Patienten festzuhalten, um ihn so zu beruhigen. Meistens reicht aber das einfühlsame Wort und eine Zigarette danach."
Er und seine Kollegen sind für solche Stresssituationen bestens ausgebildet und werden regelmäßig in Kommunikation und Deeskalation geschult.
Der 44-jährige betont, dass Mittel wie „Zwangsmedikation" heute kaum noch angewendet werden. Auch die Zuhilfenahme des „Fixierbettes" werde nur äußerst selten angewendet. In solch einem Ausnahmefall ist allerdings jede Sekunde ein Pfleger bei dem Patienten, der für ihn sorgt. Zudem kontrolliert ein Arzt alle zwei Stunden, ob eine Fixierung noch notwendig ist.
Meyer verwehrt sich gegen das in der Öffentlichkeit existierende Bild vom „gefesselten" Patienten, der auf seinem Bett festgeschnallt in einem dunklen Raum mit Gittern an den Fenstern alleingelassen wird. Auch Leute, die in Zwangsjacken gesteckt und in Gummizellen geworfen werden, seien Horrormärchen. „Das habe ich in meiner gesamten Behandlungszeit noch nie erlebt!"
Zudem beklagt er das Problem, das psychische Krankheiten in der Gesellschaft immer noch heruntergespielt werden. Viele Patienten wollen ihren Angehörigen daheim nichts davon erzählen. Auch fehlen Therapieangebote.
Aber Meyer ist froh, wenn Menschen den Weg zu ihm finden. „Die Gesellschaft muss endlich lernen, anders zu denken und damit umzugehen. Psychische Erkrankungen machen vor keinem Menschen halt!"
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