Eric Hegmann

Chefredakteur, Paarberater, Hamburg

1 Abo und 3 Abonnenten
Artikel

Wie viel Offenheit braucht eine gute Beziehung?

Wenn es um Ehrlichkeit geht, sind sich alle einig: Einen Partner, der lügt, will niemand. Aber sollte man nicht vielleicht manchmal nur zuhören und nichts sagen?

Der Philosoph Platon schrieb die Idee des Eros auf, nach der die Götter aus Furcht vor dem Potential des Menschen diesen in zwei Hälften schnitten. Seitdem irren die Menschen durch die Welt auf der Suche nach ihrer passenden Hälfte, um sich wieder vollständig zu fühlen.

Dieses romantische Bild kennt keine Geheimnisse und sieht Verschmelzung als Ideal. Es geht sogar weiter als der Seelenverwandte, der in seinem Gegenüber einen Spiegel seiner selbst sucht.

So romantisch es zunächst erscheinen mag: realistisch ist es nicht. Weder wurden wir vor der Geburt getrennt und sind nun auf der Suche nach unserem Zwilling, noch entspricht es dem Bild einer gleichberechtigten Partnerschaft, permanent Selbstbestätigung zu erhalten - oder gar einzufordern.

So verbleiben also in der Liebesheirat zwei eigenständige Persönlichkeiten, die in ihrer Verbundenheit Rituale der Liebe entwickeln, sie pflegen und dadurch gemeinsam mehr Glück erleben können als ihnen jeweils allein möglich wäre.

Individualität beschreibt die Andersartigkeit des Ichs und die Erkenntnis: Wenn ich anders bin als alle anderen - dann sind alle anderen anders als ich. Diese individuellen Eigenschaften unseres Partners lieben wir. (Nun, vielleicht nicht alle. Aber die meisten.)

Geheimnisse müssen nicht sein - aber wir dürfen welche haben

Gehen Sie davon aus, dass Ihr Partner gar nicht alles wissen möchte. Das "Schatz, wie war dein Tag?"-Ritual bringt es auf den Punkt. Sie müssen auswählen und bewerten, was Sie erzählen. Denn alle Eindrücke und Gedanken können Sie nicht teilen. Einige Dinge werden Ihren Partner schlicht nicht interessieren, weil schon die Zeit gar nicht reicht, Ihren Tag nochmals zu erleben. Manche Dinge, die Sie nicht erzählen, bewerten Sie als unwichtig - kann sein, dass Ihr Partner diese sogar spannend finden würde. Zum Beispiel der kleine Flirt in der U-Bahn. Ein Lächeln, das den Tag versüßte und das jetzt nicht den Abend verderben soll. Ist das eine Priorisierung? Oder ist es ein Geheimnis?

Ganz sicher ist, dass Sie keine Geheimnisse voreinander haben sollten, aber es ist unrealistisch zu glauben, dass Sie keine Geheimnisse voreinander haben werden. Und das ist gut so: Ihr Partner und Sie benötigen immer wieder die Möglichkeit, sich gegenseitig neu zu entdecken. Dazu gehört es, Freiräume zu geben und zu lassen. Bahnbrechend Neues entdecken werden Sie vielleicht irgendwann nicht mehr, weil Sie bereits so lange ein Paar sind. Aber das heißt nicht, dass Sie sich nicht immer wieder überraschen sollten.

Überraschen kann uns nur, was wir noch nicht kennen

Eine Übung aus der Praxis für Paare, die sehr lange zusammen und sich vertraut sind, ist beispielsweise: Unternehmen Sie gemeinsam etwas, das Sie noch nie gemacht haben und erleben Sie sich in einer unbekannten Situation. (Das lässt sich übrigens auch aufs Schlafzimmer übertragen, sollten Ihnen Ausflüge zu langweilig sein.)

Überraschen kann uns nur, was wir noch nicht kennen und jede Liebe wächst aus dem Zusammenspiel von Bewährtem und Neuem. Vertrautheit braucht es, damit wir uns fallen lassen können und die Aussicht auf Neues ist es, die uns den Spaß am Sprung gibt.

Wenn wir von Geheimnissen sprechen, müssen wir unterscheiden zwischen Diskretion und Tabu. Tabus ergeben sich häufig aus dem Elternhaus und der frühen kindlichen Prägung. Manchmal ist es sogar sinnvoll, sich aus der Komfortzone zu entfernen, um Blockaden zu überwinden. Das kann bei Paaren die berühmte Klischee-Szene im Badezimmer sein: Tür auf oder zu bei der Toilette? Die Frage hat viele Paare streiten lassen. Will ich alles wissen? Muss ich alles wissen?

Hier beginnt die Diskretion und das Bewahren eines Geheimnisses bedeutet: Rücksicht nehmen auf den Partner, seine Einstellungen und Werte, die gewiss anders sind als Ihre. Alltagsbeispiele hierfür sind: Ihre Meinung zu seinen Freunden oder Ihre Einstellung gegenüber des Problems mit seinem Chef. Bevor Sie Position beziehen und absolut ehrlich sind, ist durchaus sinnvoll sich zu überlegen, ob Sie Ihrem Partner damit wirklich weiterhelfen. Vielleicht ist es besser, wenn Sie nur zuhören und keine Ratschläge geben, weil sie wissen, dass Ihr Partner dadurch verunsichert, beleidigt oder verärgert wäre.

Die großen Lebenslügen, die auf Betrug und vorsätzlicher Täuschung beruhen, sind hier ausdrücklich nicht gemeint. Aber einmal etwas für sich zu behalten, kann von gegenseitigem Respekt zeugen.

Zum Original