Berlin war nicht immer Sehnsuchtsort, aber schon lange einer der wichtigsten Magneten für die türkische Diaspora. Spätestens seit den sechziger Jahren kommen Jahr für Jahr Menschen aus der Türkei in die Stadt. Und es gibt ja tausend Gründe, nach Berlin zu ziehen. In der Türkei ist in den vergangenen Jahren einer dazugekommen: Angst.
Wer mit türkischen Exilanten spricht, erfährt, dass viele von ihnen anfangs Hoffnung in den damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und die AK-Partei gesetzt hatten. Heute sehen einige die Türkei auf einen Bürgerkrieg zusteuern.
Allein in diesem Jahr haben laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 4709 Menschen aus der Türkei einen Asylantrag in Deutschland gestellt, im Land Berlin waren es 370. Insgesamt leben rund 200 000 türkischstämmige Menschen in Berlin.
Fünf von ihnen sollen hier zu Wort kommen. Sie erzählen, wann sie wussten, dass sie ihre Heimat verlassen, dass sie herkommen müssen. Sie erzählen von diesem einen Moment ...
Selda Asal, Künstlerin, seit 1122 Tagen in Berlin Foto: Doris Spiekermann-Klaas ... als ich mit ansah, wie Innenminister Idris Naim Sahin erklärte, sie würden Künstler ab jetzt wie Unkraut entfernen.Ich bin 1996 schon einmal in Berlin gewesen, das erste Mal. Bin extra für das Musikfestival „Sonambiente Festival" in die Stadt gekommen. Ich lief über die Oranienstraße, den Hackeschen Markt und dachte: Wahnsinn! Zerstörte Häuser, Graffiti, das Tacheles, Haus Schwarzenberg! Ich war begeistert von der Stadt. Ich ahnte natürlich nicht, dass ich eines Tages hier leben würde. Istanbul war damals unglaublich dynamisch und eine tolle Stadt für Künstler. Meine Künstlerfreunde und ich hätten nie woanders wohnen wollen. Jetzt ziehen alle fort: nach Paris, New York, Wien und Berlin.
Ich bin in Izmir aufgewachsen, habe dort Musik an der Dokuz Eylül Universität und dann Kunst in Istanbul, Österreich, Italien studiert. Ich wurde Videokünstlerin, habe 21 Jahre lang in Istanbul gelebt. Dort hatte ich bis 2011 einen Projektraum, das „Apartment Projekt" mitten in Beyoglu, einem Viertel auf der europäischen Seite der Stadt. Ich habe den Projektraum gegründet, damit verschiedene Künstler aus allen Bereichen der Kunst miteinander kollaborieren können.
Als der Innenminister dann 2011 im Fernsehen erklärt hat, die Regierung würde von nun an Künstler im Land wie Unkraut entfernen, wurde mir klar: Die Kunstwelt der Türkei wird bald nicht mehr dieselbe und nie wieder wie vorher sein. Das war einer von vielen Punkten, die mich haben glauben lassen, weggehen zu müssen.
Ich habe mir daraufhin im September erst einmal eine Fläche für das „Apartment Projekt" in Berlin-Neukölln gesucht, lebte und arbeitete eine Weile zwischen Berlin und Istanbul. Neukölln war meine erste Wahl, ich wollte einfach der türkischen, kurdischen und arabischen Nachbarschaft nahe sein.
Gut ein Jahr später haben dann die Gezi-Proteste in Istanbul begonnen. Ich habe damals Fernseher in die Schaufenster meines Projektraumes gestellt, auf denen liefen rund um die Uhr Neuigkeiten von den Geschehnissen rund um Gezi. Dann habe ich den Raum in Neukölln abgeschlossen und den nächsten Flug nach Istanbul genommen, um ebenfalls zu demonstrieren. Erst ein Jahr später, am 21. August 2014, die Proteste waren abgeebbt, kehrte ich nach Berlin zurück. Diesmal, um endgültig zu bleiben.
Der Umzug war eine Herausforderung für mich, ich war immerhin schon mehr als 50 Jahre alt. Ich habe meine gesamte Vergangenheit zurückgelassen: meine Familie, Freunde und all die Orte, an denen ich jahrelang war. Mein Leben hier noch mal komplett neu zu starten, war nicht einfach: In Istanbul war ich gut vernetzt gewesen und in der Kunstszene bekannt, hier musste ich wieder bei null anfangen. Ich glaube auch deswegen hat es von der Entscheidung 2011 bis zum endgültigen Umzug in diese Stadt drei Jahre gebraucht. Nun bin ich hier. Und glücklich.
Ich wohne in Kreuzberg, mit meinen Freunden und Bekannten gehe ich oft zu Ausstellungen oder Konzerten. Oder ins HAU, das Haus der Kulturen der Welt oder den Roten Salon. Musik und Klangkunst liebe ich noch immer, genau wie 1996, als ich das erste Mal auf dem Sonambiente-Festival in Berlin war.
Aber ich vermisse die alten Zeiten in Istanbul. Als ich vor ein paar Wochen für drei Tage dort war, hatte ich bei der Abreise das Gefühl, regelrecht nach Berlin zu rennen. Ich konnte es kaum erwarten, wieder hier zu sein. In Istanbul kann ich gerade nicht atmen. Alles dort verändert sich rasend schnell, die Bäume und Parks verschwinden.
In Berlin danke ich dem Universum, dass ich auf meinem Fahrrad den Landwehrkanal entlangfahren und einfach atmen kann. Ich bleibe mindestens die nächsten fünf Jahre noch hier. Vielleicht werde ich hier sterben.