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Belgien will nicht mehr der ewige Geheimfavorit sein

Nach dem nervenaufreibenden Last-Minute-Sieg gegen Japan herrschte am Dienstag Ruhe im WM-Quartier der belgischen Nationalmannschaft in Dedowsk. Kein Training, keine Medientermine. Stattdessen Füße hochlegen und ausspannen. Und allem voran: Die Sinne schärfen für das anstehende Viertelfinale am Freitag (20 Uhr) in Kasan gegen Brasilien, die „beste Mannschaft des Turniers", wie Trainer Roberto Martinez findet, der die Favoritenrolle damit vorsorglich der „Selecao" zuschiebt. Vielleicht ist das auch besser so.

Denn im Achtelfinale hatte Belgien diese noch selbst inne, konnte ihr aber erst mit einer späten wie grandiosen Aufholjagd gerecht werden. Nach Toren vom Ex-Herthaner Genki Haraguchi (48. Minute) und dem Frankfurter Takashi Inui (52.) stand der ewige Geheimfavorit gegen die Japaner schon kurz vor dem Aus. Erst eine kuriose Kopfball-Bogenlampe aus 18,6 Metern, mit der Jan Vertonghen (69.) gleichzeitig einen Rekord aufstellte - niemand traf bei einer WM mit dem Kopf bislang aus einer größeren Distanz - und ein weiterer Kopfballtreffer vom eingewechselten Marouane Fellaini (74.) brachten die „Roten Teufel" zurück ins Spiel. Den Höhepunkt erreichte die Dramaturgie dieses Abends jedoch erst an dessen Ende.

In der letzten Minute der Nachspielzeit setzten die Belgier nach einer Ecke der aufgerückten Japaner zum Konter an. Abwurf Thibaut Courtois, Tempo-Sololauf mit anschließend perfekt gespieltem Pass von Kevin de Bruyne auf Thomas Meunier, flache Flanke in die Mitte, Romelu Lukaku ließ durch, Joker Nacer Chadli (90.+4.) brauchte nur noch einzuschieben. Sagenhafte zehn Sekunden, mehr brauchten die Belgier in diesem Spiel nicht, um zu zeigen, warum sie zu Recht ein Titelanwärter sind. „Wir haben in einer ganz schweren Situation die Ruhe bewahrt und gezeigt, dass wir mental stark sind. Der Glaube ist wichtig", sagte Abwehrspieler Vincent Kompany nach dem Spiel. Ruhe und Glaube, die Belgier, so scheint es, kann so schnell nichts umwerfen.

Beim nächsten Gegner Brasilien kann man das besonders von einem Mann nicht behaupten: Neymar. Doch die Belgier wollen sich von der Posse um den 26-Jährigen nicht beirren lassen: „Wir müssen nur auf uns schauen und unseren Job machen", erklärte de Bruyne, „wir gehen ins Spiel, um es zu gewinnen. Der Einzug ins Viertelfinale hat keine Bedeutung, wenn wir das nicht schaffen." Martinez mahnt vorsichtshalber trotzdem vor dem Gegner: „Neymar und Coutinho können das Spiel in einer Sekunde entscheiden." Gleichzeitig gelte es aber, dieses K.o.-Spiel zu genießen. „Als kleiner Junge träumst du von solchen Spielen", so Martinez, der die belgische Nationalmannschaft nach dem enttäuschenden EM-Aus im Sommer 2016 - 1:3 im Viertelfinale gegen Wales - übernommen hatte.

Ein wenig Hoffnung, dass der Traum vom WM-Titel weitergeht, könnte Belgien aus dem Ausfall von Brasiliens Casemiro schöpfen. Der ist zwar weniger auffällig gewesen als Neymar, dafür im defensiven Mittelfeld der Stabilisator der „Selecao". Durch seine Gelbsperre wird Fernandinho ins Team rücken, das hat Coach Tite bereits verkündet. Aber: Belgien muss nach dem Auftritt gegen Japan genug an seiner eigenen Defensive feilen. Die müsse zwingend besser werden, warnte de Bruyne, um zum zweiten Mal nach 1986 ein WM-Halbfinale zu erreichen. „Viel offensive Qualität" sei dagegen vorhanden - wie bei den Brasilianern auch. Mit der Ruhe dürfte es Freitag also ohnehin vorbei sein.


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