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Interview

"Man nimmt die Hilferufe nicht ernst"

Jeden Tag werden in Mexiko im Durchschnitt zehn Frauen und Mädchen ermordet. Häufig sind Ehemänner oder andere Familienmitglieder für die Tat verantwortlich, aber auch die Gewalt krimineller Organisationen nimmt zu. Gerade erlebt das Land mitten in der Corona-Pandemie einen neuen Höhepunkt der mörderischen Angriffe. Ana María Hernández Cárdenas beschäftigt sich täglich mit diesen Verbrechen. Sie ist Leiterin der zivilgesellschaftlichen Organisation Consorcio, die sich im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca für Frauenrechte und gegen patriarchale Gewalt einsetzt.

ZEIT ONLINE: Frau Hernández, laut einem kürzlich veröffentlichten Regierungsbericht war der April der Monat mit den meisten ermordeten Frauen und Mädchen, seit diese Verbrechen spezifisch aufgezeichnet werden. Wie erklären Sie sich das?

Ana María Hernández Cárdenas: Es hat mit der Pandemie zu tun. Die Frauen werden durch die Maßnahmen zur Virusbekämpfung in doppelter Weise schutzlos: Sie sind 24 Stunden am Tag ihren potenziellen Angreifern ausgesetzt, weil sie ununterbrochen zu Hause bleiben müssen. Und sie können sich nicht an die zuständigen Behörden wenden, wenn sie bedroht werden. Diese Anlaufstellen helfen schon in gewöhnlichen Zeiten wenig, jetzt sind sie oft gar nicht besetzt. Aber die Tendenz ist nicht neu. Diese Gewalt bewegt sich schon lange auf sehr hohem Niveau. Die Täter agieren völlig ungehemmt, sowohl was die Anzahl der Taten als auch die Grausamkeit betrifft.

ZEIT ONLINE: Wer sind die Täter?

Hernández: 25 Prozent aller gewaltsamen Angriffe auf Frauen und Mädchen in Mexiko finden in der eigenen Familie statt. Vier von zehn Frauen werden zu Hause ermordet – viele von ihren Ehemännern. Aber viele fallen auch dem organisierten Verbrechen zum Opfer. Sie werden verschleppt, um als Drogenkurierinnen oder Prostituierte zu arbeiten, und umgebracht, wenn die Kriminellen sie nicht mehr ausbeuten können. Manche werden getötet, um die Männer eines rivalisierenden Kartells zu bestrafen. Andere sterben, weil sie sich weigern, Schutzgeld zu zahlen oder weil sie kriminellen Geschäften in die Quere gekommen sind.

Die Sicherheitsbehörden und die Justiz verfolgen diese Taten kaum, deshalb geht das Morden immer weiter. Die Zahl der weiblichen Mordopfer war schon zu Beginn des Jahres immens hoch. Insgesamt hat sie sich im Vergleich zu 2015 verdoppelt. Im April wurden dann 337 Morde an Frauen registriert, doch davon stuften die Behörden nur 70 als Femizide ein, also als Mord aus geschlechtsspezifischen Gründen. Das hat mit der Art und Weise zu tun, wie ermittelt wird. Wir gehen davon aus, dass die Zahl der Femizide wesentlich höher ist.

ZEIT ONLINE: Dass die Frauen wegen der Pandemie zu Hause bleiben müssen, ist also nur ein Grund für die Zunahme der Gewalt?

Hernández: Ja, aber ein sehr wichtiger. Die Anrufe bei den Notfallhotlines haben im Vergleich zum gleichen Zeitraum im vergangenen Jahr um 56 Prozent zugenommen. Das zeigt uns, dass Frauen und Mädchen derzeit in besonderer Weise den Gefahren häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Die Spannungen, die sie ertragen müssen, nehmen zu. Das wird von offizieller Seite nicht anerkannt und es gibt keine wirksamen Mechanismen, um dagegen vorzugehen.

ZEIT ONLINE: Was unternehmen die Behörden, um die Frauen in dieser speziellen Situation zu schützen?

Hernández: Es wurden Notfallnummern eingerichtet. Aber unsere Erfahrung ist, dass man sich nicht um die Betroffenen kümmert. Häufig werden die Anrufe gar nicht angenommen, oder man nimmt die Hilferufe nicht ernst. Es gibt auch viel zu wenig ausgebildetes Personal. In einigen Regionen existieren Zufluchtsorte für Frauen. Allerdings wurde der Etat für diese Schutzräume verringert, obwohl sie oft völlig überbelegt sind. So kann man Betroffene nicht schützen.
"Wir leben in einem Klima der absoluten Straflosigkeit"

ZEIT ONLINE: Was löst es bei Ihnen aus, wenn Sie hören, dass die Zahl der Frauenmorde zunimmt?

Hernández: Mir macht es natürlich große Angst, dieser drohenden Gewalt täglich ausgesetzt zu sein und zu wissen, dass sie uns jederzeit angreifen können. Ich habe eine jugendliche Tochter. Im Moment müssen wir zu Hause bleiben, aber in normalen Zeiten bin ich ständig besorgt, wenn sie alleine unterwegs ist. Im Zuge der allgemein ansteigenden Gewalt nehmen auch die sexuellen Belästigungen in der Öffentlichkeit und Vergewaltigungen zu. Sie sind alltäglich geworden. Wir leben in permanenter Alarmbereitschaft, drehen uns auf der Straße ständig um. Dazu kommt, dass in den sozialen Medien zunehmend ein Ambiente der Gewalt geschaffen wird, das vor allem auf junge Frauen abzielt.

Als Aktivistinnen, die sich Tag und Nacht um von Gewalt betroffene Frauen kümmern, diese Verbrechen anzeigen und öffentlich denunzieren, haben wir sicher eine spezielle Wahrnehmung. Aber das Gefühl, sich nicht sicher bewegen zu können, ist in Mexiko sehr verbreitet.

ZEIT ONLINE: Sie leben in einer ländlich geprägten Region. Wie ist dort die Lage?

Hernández: Oaxaca ist einer der Bundesstaaten, in dem am meisten Frauen und Mädchen umgebracht werden. Wir sprechen von 423 Todesopfern seit 2017. Im gleichen Zeitraum sind 766 Frauen und Mädchen verschwunden, etwa zwei Drittel von ihnen sind Jugendliche oder Kinder. Manche werden später tot aufgefunden, von anderen weiß man bis heute nichts. Diese Verbrechen finden vor allem in Regionen statt, in denen das organisierte Verbrechen stark präsent ist.

Die Landesregierung stellt keine Schutzräume für Frauen zur Verfügung und viele Delikte werden gar nicht erfasst. Nur selten werden die Täter bestraft und wenn, fallen die Urteile meist sehr sanft aus. Damit werden die Taten verharmlost. Das zeigt zum Beispiel der Fall der Tochter der Journalistin Soledad Jarquín, María del Sol. Die Frau wurde vor genau zwei Jahren auf offener Straße erschossen, doch die Ermittlungen haben bis heute keine brauchbaren Ergebnisse erbracht. Dabei spricht alles dafür, dass Personen des politischen Lebens die Tat verübt haben. Sie wurden längst identifiziert.

ZEIT ONLINE: Das heißt, die Behörden schützen die Täter?

Hernández: Wir leben in einem Klima der absoluten Straflosigkeit. Die Regierung des Bundesstaats hatte versprochen, juristische Anlaufstellen für Frauen einzurichten, doch die gibt es bis heute nicht. In Oaxaca liegen viele Dörfer extrem abgelegen. Das macht es sehr schwer, Anzeige zu erstatten. Und wenn jemand verschleppt wird, dauert es oft Tage, bis die Behörden reagieren. Das erschwert die Suche und verringert die Chance, Verschwundene lebend wiederzufinden.

ZEIT ONLINE: Ist Ihre Arbeit gefährlicher geworden?

Hernández: Ja, die Zunahme der Gewalt trifft auch Feministinnen und Menschenrechtsverteidiger. In den vergangenen Monaten wurden mehrere Aktivisten und kritische Journalisten ermordet. Andere werden mit dem Tod bedroht. Zugleich geht die Pandemie-bedingte schwierige Situation auch an uns persönlich nicht vorbei. Wir müssen uns um Aktivistinnen kümmern, die mit Angst, Traurigkeit und Depressionen zu kämpfen haben. Wir müssen Kolleginnen finanziell absichern, die ihr Einkommen verloren haben. Und wir bekommen keinen Rückhalt von der mexikanischen Regierung unter Präsident Andrés Manuel López Obrador, im Gegenteil: Noch vor der Ausbreitung des Virus gingen am Weltfrauentag Zigtausende auf die Straße, am 9. März streikten Millionen Frauen gegen die Gewalt – und der Präsident hat uns deshalb als Konservative und Rechte beschimpft. Diese Regierung hat kein Interesse daran, das Problem der patriarchalen Gewalt auf die Agenda zu setzen.

ZEIT ONLINE: Aber López Obrador ist als linker Reformer angetreten.

Hernández: Dennoch betreibt seine Regierung keine nachhaltige Politik, um die Gewalt gegen Frauen einzudämmen. Das war schon vor der Pandemie eine Katastrophe. López Obrador hat zwar einige Feministinnen in seine Regierung eingebunden, aber er selbst hat sehr konservative Vorstellungen von der Rolle von Frauen. Während der Pandemie hat er erklärt, wir seien die besseren Pflegerinnen und sollten uns um die Privatsphäre kümmern, Männer seien einfach umtriebiger. Er behauptet, die Familie sei der sicherste Ort für Frauen, obwohl bewiesen ist, dass das nicht stimmt. Jüngst hat er behauptet, 90 Prozent der Notfallanrufe seien falsch.

Das ist nicht nur sehr gefährlich, sondern es diskreditiert die Arbeit seiner eigenen Behörden. Uns Frauen bezichtigt er damit der Lüge und Übertreibung. Um zu belegen, dass alles nicht so schlimm sei, führte er die Zahl der Anzeigen an. Sie habe um 27 Prozent abgenommen. Aber das ist schlicht so, weil man derzeit niemanden anzeigen kann, weil die Frauen das Haus nicht verlassen können und viele Behörden geschlossen sind. Offensichtlich mussten sich die Feministinnen in der Regierung dem Präsidenten unterordnen.