Die gute Nachricht zuerst: Durch die biologische Anpassungsfähigkeit unseres Körpers kann sich unser Körper bis ins hohe Alter wandeln - je nach Impuls - auch von einem schlafferen in ein kräftigeres Muskel- Skelettsystem. „Gäbe es ein Medikament, das die gleiche Wirkung auf die menschliche Gesundheit hätte wie Bewegung, wäre es mit Sicherheit das wertvollste Arzneimittel aller Zeiten", sagt Neurowissenschaftler Mark Tarnopolsky 2016 frei übersetzt im Times Magazine. Eine Werbekampagne für Bewegung im Leben des Menschen könnte also lauten: „Sie ist frei von Nebenwirkungen und das natürlichste Gesunderhaltungsprogramm für Kraft, Herz und Hirn."
Zudem ist unser Gehirn maßgeblich daran beteiligt und daran interessiert, dass wir uns bewegen. Zum einen rostet unser Hinterstübchen, wenn wir es nicht tun. Zum anderen ist unsere Schaltzentrale möglicherweise allein dazu da, damit wir uns bewegen. Der Neurowissenschaftler Daniel LP Wolpert erklärt Bewegung sogar als einzigen Grund für die Existenz des menschlichen Hirns (TED-Rede 2011). Für Wolpert ist es dazu da, damit wir anpassungsfähige und komplexe Bewegungen ausführen können; Muskelimpulse, die wir dafür benötigen, nutzen wir - frei interpretiert - um damit voranzukommen. Um als Mensch voranzukommen, bedienen wir uns unserer Muskulatur, die wir - grob gesagt - für Gestik und Kommunikation bis hin zur Akrobatik als Bewegungshöchstform einsetzen. Sobald man nicht mehr vorankommen muss, wird das Hirn quasi obsolet.
Die Seescheide verdaut ihr Gehirn, sobald sie ihr Lebensziel erreicht hatEr verweist dabei auf ein sehr erfolgreiches Meerestier, das so verfährt: Die sogenannte Seescheide verdaut ihr Gehirn nachdem sie auf dem Meeresgrund einen Felsen gefunden hat, auf dem sie sesshaft geworden ist. Setzt man Sesshaftigkeit mit Schreibtischarbeit und Couchpotatoe-Gehabe gleich, wird sich unser Gehirn fragen, warum wir es noch nicht längst verdaut haben. Mindestens erhält unser Körper demnach - so meine Interpretation - keine Impulse mehr, vorankommen zu müssen. Ein Teufelskreis entsteht. Vorankommen wird zweitranging. Stillstand entsteht. Jedoch nicht bei diesen Alten:
Bewegungsvorbilder in Bestform: Johanna Quaas und Fauja SinghBei der Frage, was uns auf dem Weg zum Altwerden daran hindert, in Bewegung zu bleiben, finde ich es wichtig, Menschen hervorzuheben, die bewegt und sogar athletisch alt geworden sind - die ältesten Sportler der Welt, zum Beispiel. Zu ihnen zählen:
Fauja Singh, geboren 1911, ist ein britisch-indischer Läufer. Er ist der älteste Langstreckenläufer der Welt und absolvierte als erster Hundertjähriger einen Marathon. 2013 beendete er seine Laufkarriere mit 102 Jahren. Feldbeobachtung: Wie hält Frau Quaas ihr Leben bewegt?
Quaas habe ich 2015 kurz vor ihrem 90. Geburtstag auf ihrem Lieblingswettkampf kennengelernt. Beim Turnvater-Jahn-Fest in Sachsen-Anhalt turnte sie bei guten 30 Grad Celsius mit vielen Turnfreunden jenseits der 80. Sie gratulieren ihr zu ihrem - erneuten - Sieg an Barren, Bank und Boden. Sie freuen sich gemeinsam, lachen. Diese Leichtigkeit ihrer perfekten Leistung ist Ergebnis kontinuierlichen Trainings.
Was zeichnet die Silver-Athletin noch aus?
Willensstärke zeichnet sie aus. Ein Jahr zuvor war sie an der Schulter verletzt und musste aussetzen.
Ihre Ernährung ist bodenständig: Sie esse gern eingelegten Hering und Gurke mit Joghurt und Sahne, viel Gemüse, Bratwurst, Kartoffelbrei und schnelle Linsensuppe.
Und bei meinen Beobachtungen auf dem Fest fällt mir auf, dass sie ein Mensch ist, der sich in der Gesellschaft anderer Menschen wohl fühlt, sich austauscht: mit Fans und Nachwuchs.
Sie lacht viel. Und sie scheint nicht nur Freude an Bewegung zu haben, sogar eine Leidenschaft: neben ihrem Turntraining besucht sie Stand 2015 auch Tibeter-Training und zweimal in der Woche Bauch-Beine-Po-Kurse.
Sitzen ist das neue Rauchen: Zum Ausgleich des Bewegungsdefizits genügt Sport allein nicht.
Tatsächlich empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Erwachsenen, 5-mal pro Woche 30 Minuten lang Sport zu treiben. Mittlerweile wissen wir jedoch auch: Sport allein genügt nicht, um das tägliche Bewegungsdefizit auszugleichen. Der Trainer und Autor Kelly Starrett führt in seinem Buch „Sitzen ist das neue Rauchen", dieses Beispiel an: Als er 2007 eine Universitäts-Footballmannschaft begleitete, sollte er herausfinden, warum es trotz des Trainings unter anderem dennoch zu vielen Verletzungen kam und viele Spieler unter Rückenschmerzen litten - obwohl das Training immer weiter optimiert wurde. Das Team um Starrett analysierte das Trainingskonzept und konnte hier keine Fehler finden. Die Crux kam erst bei genauerer Betrachtung heraus: Die Mannschaftsmitglieder saßen außerhalb der intensiven und professionellen Trainingseinheiten bis zu 14 Stunden am Tag - im Unterricht, in ihrer Freizeit und beim Essen.
Kulturelles Lernen: Wir müssen unsere eigenen Ressourcen wieder nach vorn bringenDas Wort - auch der späten Stunde - lautet Eigenverantwortung. In dem Magazin „Dr. v. Hirschhausens Gesund Leben" verweist der Autor in einem Artikel über gesunde Lebensführung (S.30), dass die eigene Verantwortung für Leib und Seele gern abgegeben wird: So hätten (...) Hygiene und Antibiotika zwar einerseits den Sieg über viele Infektionskrankheiten gebracht, potente Medikamente die Lebenserwartung verlängert. Andererseits rückte durch diese Entwicklung auch die Bedeutung der eigenen Ressourcen in den Hintergrund.
Gesundheit und Laienvorstellungen: Wie wir wahrnehmen und erkennen hat auch EinflussOb wir vorankommen oder stillstehen hängt auch mit unserer Kognition zusammen - das Wahrnehmen und Erkennen: „Es ist (...) offensichtlich, dass Menschen nicht einfach ihre Überzeugungen im Alltag umsetzen, in der Regel besteht eine deutliche Lücke zwischen Denken und Handeln, auch weil Gesundheit in Konkurrenz zu anderen Lebenszielen und Anforderungen steht", schreibt der Professor für Gesundheitspsychologie Toni Faltermaier auf S. 202 des aktuellen BKK-Gesundheitsreports. Oder wie sagte noch Winston Churchill: „Ein leidenschaftlicher Raucher, der immer wieder von der Bedeutung der Gefahr des Rauchens für seine Gesundheit liest, hört in den meisten Fällen auf -
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