Längst krächzen es die Eichelhäher aus den Wäldern, dass es Menschen nicht nur körperlich guttut, regelmäßig längere Strecken zu Fuß zu gehen. Wandern entspannt, schult die Sinne und trainiert das Hirn; bei älteren Menschen beugt es sogar dem altersbedingten Schrumpfen des Gehirns und so auch Demenz vor, wie der US-Psychologe und Alternsforscher Kirk Erickson von der Universität von Pittsburgh herausgefunden hat - und nicht nur er. All das ist längst bekannt. Weniger herumgesprochen hat sich, dass wir oft uralten, vererbten Verhaltensmustern folgen, wenn wir durch die Lande stapfen. Allerdings mischen auch unsere Erziehung und persönliche Erfahrungen mit, und nicht immer lassen sich die Ursachen sauber trennen. Männer führen, Frauen folgen Bei Gruppen von Spaziergängern oder Wanderern sieht man zum Beispiel immer wieder, dass die Männer an der Spitze marschieren und die Frauen einige Meter dahinter folgen. Auch Rainer Brämer hat es auf vielen Touren über Stock und Stein beobachtet: „In etwa 80 Prozent aller Fälle geht eine Männergruppe vorneweg", sagt der Natursoziologe und Wanderforscher. Dies sei ein altes Erbe. Frauen überließen Männern gerne die „potenziell gefährliche Aufklärungsposition" an der Spitze. Auch die Tübinger Kulturwissenschaftlerinnen Christiane Pyka und Franziska Roller gelangten in einer Studie zur Erkenntnis, dass Männer häufig die Führung übernehmen. Viele Frauen überließen ihnen diese Aufgabe „mit größter Selbstverständlichkeit". Wenn es darum gehe, sich „hinaus ins feindliche Leben zu wagen", genieße „nach wie vor der Mann das Vorrecht". Und längst nicht immer muss er es sich nehmen. Doch soll das wirklich der Grund für das Zurückbleiben der Damen im zweiten Glied sein, auch heute noch, im 21. Jahrhundert, wo im Wald so gut wie kein Räuber mehr lauert und in Deutschland auch kein Braunbär und fast nirgends Wölfe? Zunächst einmal könnte schon der etwas schnellere Schritt der Herren eine Rolle spielen. Sie sind nämlich im Mittel mit 5 Kilometern pro Stunde unterwegs, die Damen nur mit 4,3.3 Dieser Unterschied dürfte bei ähnlicher Gesundheit in etwa auch im Alter erhalten bleiben, sodass auch Rentner und Pensionäre zwar langsamer unterwegs sind, aber immer noch flotter als ihre Gefährtinnen. Doch wer flinker geht, verfolgt womöglich einfach einen Plan. Nach Ansicht des Evolutionspsychologen Harald Euler könnte das Voranlaufen der Männer nämlich auch damit zusammenhängen, dass sie „zielgerichteter gehen", um den angestrebten Ort möglichst schnell zu erreichen. Man kennt es vom Einkaufen: Während Männer es am liebsten im Stil einer Lenkrakete rasch hinter sich bringen, lassen Frauen sich durch verlockende Angebote links und rechts leichter ablenken. „Sie haben es meist weniger eilig damit, irgendwo anzukommen; für sie ist eher der Weg das Ziel." Zudem sei für Frauen ein Spaziergang „mehr ein soziales Ereignis, bei dem man sich unterhält, so wie beim gemeinsamen Einkaufsbummel". Und schließlich müssen die Damen sich als Pfadfinderinnen selten etwas beweisen und verlassen sich deshalb eher auf den Rat entgegenkommender Wanderer oder von Menschen, die sie für ortskundig halten. Viele Männer hingegen fragen höchst ungern nach dem Weg Wenn der Leithammel verschwindet Nicht panisch, aber ein wenig verstört, verhalten sich führerlose Wandergruppen, wenn schwerwiegende Richtungsentscheidungen anstehen, zum Beispiel an einer rätselhaften oder völlig unerwarteten Wegkreuzung im Wald. Wie üblich ziehen sich größere Gruppen von Wanderern weit auseinander, vor allem gegen Ende der Tour, wenn die Kräfte spürbar schwinden. Vorne marschieren dann die Konditionsstarken, oft auch notorische Wegbereiter und Leithammel, die aber manchmal auch nicht weiterwissen. In solchen Momenten „vollzieht sich in der Spitzengruppe ein äußerst sensibler indirekter Abstimmungsprozess, der an das kollektive Verhalten eines Vogelschwarms erinnert", hat Rainer Brämer im Gelände oft beobachten können. „Jedes Mitglied der Spitzengruppe setzt an einer Kreuzung vorsichtige Richtungssignale und registriert gleichzeitig die Signale der anderen, sodass es von außen gesehen fast so scheint, als gingen alle in vollem Konsens in die eingeschlagene Richtung." Die Sicherheitsstrategie bestehe darin, die Verantwortung auf alle an der Spitze Gehenden zu verteilen, darauf bauend, dass bei allen zumindest etwas Erfahrung auch wirklich vorhanden ist. Da die meisten Wandergruppen am Ende wieder in der Zivilisation landen, scheint die Sache ganz gut zu funktionieren. Wohin des Wegs? Viele Wanderer können nur schlecht mit Wanderkarten umgehen und vertrauen am liebsten den Wegzeichen entlang des Pfades. Trotzdem - oder gerade deshalb - verlaufen sie sich. Schwerlich zwar auf den inzwischen exzellent markierten deutschen Premium-Wanderwegen wie dem Hochrhöner, dem Rothaar- oder Rheinsteig, auf denen man tagelang unterwegs sein kann. Doch viele lokale Wanderwege sind noch immer missverständlich, lückenhaft und inkonsequent markiert und beschildert. Aufgemalte Zeichen sind unleserlich geworden, verschwunden oder gelten gar nicht mehr; stattdessen finden sich auf aktuellen Karten neue. Auch tauchen Wegenummern oder -zeichen zu selten auf oder fehlen an Abzweigen, also gerade dort, wo sie am nötigsten wären. Und hier ist überhaupt nur von jenen Fällen die Rede, in denen der Wanderweg von der Karte oder der markierte Baum in der Landschaft tatsächlich noch vorhanden ist. Längst nicht immer ist das der Fall, denn Wanderkarten werden nur alle paar Jahre aktualisiert. Oft bietet der Handel noch Reste älterer Ausgaben feil. Das eigentliche Problem aber ist ein psychologisches: Markiert werden die Wanderwege oft von ehrenamtlichen Wegewarten, häufig sehr bemühte Mitglieder lokaler Wander- oder Alpenvereine. Dummerweise kennen sich diese unverzichtbaren Helfer der Vermessungsämter in der Gegend gut aus und können sich deshalb nicht immer gut vorstellen, wie und wo sich Ortsfremde verlaufen könnten. Deshalb gilt: lieber eine Wegmarkierung zu viel als eine zu wenig. „Solange man Wanderweg-Zeichen sieht, beruhigen sie", sagt Brämer, der die Bedürfnisse von Wanderern ausgiebig erforscht hat. „Fehlen die Markierungen aber, sind die Leute schnell verwirrt und denken: Ich muss da was übersehen haben." Unerlässlich ist Konsequenz beim Kennzeichnen von Wegen: Markierungen oder Wegweiser müssen an jedem Abzweig stehen, und zwar auch dann, wenn das Ziel geradeaus liegt und man gar nicht abbiegen muss. Die früher gängige Praxis, Zeichen nur zu wiederholen, wenn man einen Weg verlassen und abbiegen muss, war Brämer zufolge „unseliger Quatsch", denn: „Wenn ich vier Kilometer geradeaus gelaufen bin, ohne die für mich wichtige Markierung wiederholt zu sehen, dann glaube ich nie im Leben, dass ich noch auf dem richtigen Weg bin." Der Aufwand lohnt sich: Wanderer, die ohne Suchstress leicht zum Ziel finden, kommen gerne wieder. Dunkelheit macht Beine Nicht nur nachts auf städtischen Straßen gehen wir schneller als im Hellen. Auf Feldwegen bei einsetzender Dämmerung oder im düsteren Wald ist flottes Marschieren erst recht die Regel. Auch Wandergruppen sputen sich, wenn es dunkel wird oder die Nacht bereits hereingebrochen ist. Rainer Brämers langjährige Erfahrung als Wanderführer hat ihm gezeigt, „dass für Nachtwanderungen um 10 bis 20 Prozent kürzere Streckenzeiten einzuplanen sind". Doch die Menschen stapfen nicht nur schneller nach Sonnenuntergang; sie rücken auch dichter zusammen. „Die üblichen Probleme mit Nachzüglern gibt es nicht mehr." Das weiß auch, wer jemals gemeinsam mit anderen Menschen, darunter einzelne Fackel- oder Lampenträger, stillgelegte Stollen oder Bergwerke besucht hat. Den Lichtspendern folgt die Gruppe auf dem Fuß, und nicht selten treten die Leute einander dabei schmerzhaft in die Hacken. Düsternis macht eben anhänglich. Genaugenommen ist es die Urangst, verloren zu gehen, und das auch noch in der Nacht, wenn Raubkatzen und andere Beutegreifer vielfach besser sehen als wir Menschen. Das steckt uns bis heute in den Knochen - oder vielmehr: im Hirn. Wo ist meine Gruppe? Gerade war man noch mitten im Pulk des Wandertrupps marschiert, doch kaum hat man sich mal eben den Schuh gebunden, schon steht man allein im Wald. Und das blöderweise auch noch kurz vor einer Wegkreuzung. Schon poltert wild das Herz im Brustkasten. Unser vegetatives Nervensystem macht sich in solchen Fällen auf das Schlimmste gefasst, als lebten wir noch vor Tausenden von Jahren. Wer damals seine Gruppe verlor oder ausgeschlossen wurde, war leichte Beute für Raubtiere und so gut wie tot - deshalb die gespannten Muskeln, der Angstschweiß und der hämmernde Puls. Manche Menschen, die abgehängt werden, haben „wie im Alptraum das Gefühl, trotz großer Anstrengungen einfach nicht mehr aufschließen zu können", sagt der Wanderforscher. Dann heißt es: Halt machen lassen und warten, oder der Wanderführer lässt sich zurückfallen. Auch das kann keuchende Nachzügler beruhigen. (auch in Teilen druckbar; komplett 8940 Anschläge, evt. mit folgendem Hinweis) Hinweis: Die Texte sind stammen leicht verändert und gekürzt aus Walter Schmidts Sachbuch: „Warum Männer nicht nebeneinander pinkeln wollen und andere Rätsel der räumlichen Psychologie" (Rowohlt, 2013, 8,99 Euro). Mehr Infos unter: www.schmidt-walter.de
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