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So mächtig ist Argentiniens Fußballmafia

Fans von River Plate provozieren Ausschreitungen. Letztlich hatten die Fußballer von Boca Juniors zu viel Angst zu spielen. (Foto: REUTERS)

Der Superclásico versinkt im Chaos, weil der größte Teil des argentinischen Fußballs abseits des Platzes stattfindet. Die Barras Bravas waschen Geld, machen Politik und treiben ihre Mannschaft aus dem Land.

Von Viktor Coco und Roland Peters, Buenos Aires

Wenn die Frage aufkommt, was so anders ist am südamerikanischen Fußball, schwärmen Fans aus Europa und sonstwo von technischer Finesse der Spieler, Emotionen der Fans und Atmosphäre in den Stadien. Aber auch Gewalt gehört dazu. Wie am vergangenen Samstag, als das Finalrückspiel der Copa Libertadores in Buenos Aires stattfinden sollte. Der Bus der Boca Juniors fuhr an einer rot-weißen Menschenwand vorbei, Anhänger des verfeindeten Rivalen River Plate warfen Steine und anderes, mehrere Scheiben zerbarsten, Spieler verletzten sich, der Busfahrer wurde ohnmächtig. In chaotischen Stunden von Funktionärssitzungen im Stadion und Straßenschlachten außerhalb wurde der historische Superclásico mehrmals neu angesetzt und schließlich für das Wochenende komplett abgesagt.


Waren das einfach nur Fans, die sich vergaßen? Eine Nachlässigkeit der Polizei? Unglückliche Zufälle? Schon wenige Stunden nach den Ausschreitungen zeigten argentinische Politiker auf die Barras Bravas, die Anführer der Fans. "Es war ein Hinterhalt", zitierten Medien hochrangige Regierungsmitglieder, die nicht mit Namen genannt werden; womöglich, um nicht ins Visier der gewalttätigen Fangruppen zu geraten. Die Barras Bravas, die "wilden Horden", kontrollieren die Kurven; sind aber keine Ultras, keine Hooligans, sondern agieren irgendwo dazwischen mit viel krimineller Energie als Mafiaorganisation. Ihr Einfluss reicht bis in die höchsten Ränge der Politik. Es gibt viele Beispiele in Argentiniens Geschichte, die dies belegen. Der Gewaltausbruch gegen den Boca-Bus ist der jüngste Fall. Die exakte Ursache der Ausschreitungen ist nicht eindeutig festzumachen, wohl aber ein Rahmen aus drei Erklärungsansätzen.


Mögliches Machtspiel der Polizei

Die unwahrscheinlichste Variante ist die, dass alles Zufall war. Unwahrscheinlich, weil am Freitag vor dem großen Finale Mitglieder der städtischen Polizei das Zuhause von Héctor "Caverna" Godoy, dem Kopf der mächtigsten Barra Brava "Los Borrachos del Tablón" (die Besoffenen von der Tribüne) durchsucht und 300 Eintrittskarten beschlagnahmt hatten. Auch umgerechnet mindestens 170.000 Euro in Pesos sowie 15.000 US-Dollar in bar nahmen die Beamten mit. Statt auf den Rängen stand deshalb ein Teil der Mitglieder unter insgesamt 500 Anhängern von River Plate dort, wo Bocas Bus abbog und angegriffen wurde. Weitere randalierten rund ums Stadion.


Wahrscheinlicher ist also die zweite Möglichkeit: Die Barra Brava nutzte die Gelegenheit zur Rache und Machtdemonstration, damit sie und ihre Anführer in Zukunft wieder in Ruhe ihren Geschäften nachgehen können. Es ist ein Muster, dass sie den Spielbetrieb mit Randale torpedieren, frei nach dem alten Hooligan-Slogan "Sieg oder Spielabbruch". Für viele Barras Bravas steht Profit und Macht über allem. Bei Rivers "Borrachos del Tablón" sogar über der Austragung des wichtigsten Spiels der argentinischen Klubgeschichte. Horacio Rodríguez Larreta, der Bürgermeister von Buenos Aires, beschuldigte die "Mafia der Barras im argentinischen Fußball", räumte aber auch "Fehler" der Polizei ein. Der dritte Erklärungsansatz, der diese "Fehler" erklären könnte, ist noch dramatischer. Auch die verantwortliche städtische Polizei könnte aktiv beteiligt gewesen sein. Die Ermittler gehen dem Verdacht nach, dass Beamte den Gewaltausbruch der Anhänger geschehen ließen oder gar bewusst begünstigten.


Laut Protokoll werden Polizisten an einer solchen Schlüsselstelle wie der verhängnisvollen Kurve einige Minuten vorher informiert, damit sie die gegnerischen Fans auf großem Abstand halten können. Dies blieb argentinischen Medien zufolge diesmal aus, zudem nahm der Bus eine neue Route. Der städtische Innenminister Martín Ocampo, verantwortlich für die Polizei, trat wegen der Vorfälle zurück. Ocampo gilt als Vertrauter von Boca Juniors' Präsident Daniel Angelici; also der Mannschaft, die attackiert wurde und nun nicht mehr im Stadion von River Plate antreten muss. Und so gehört zum Rahmen auch ein Konflikt, den Polizei und Regierung derzeit ausfechten.


Staatspräsident Mauricio Macri strukturiert die Sicherheitskräfte seit seinem Amtsantritt im Dezember 2015 um. Inzwischen sind drei Viertel aller städtischen Beamten degradierte Bundespolizisten, manche mit weniger Kompetenzen, längeren Arbeitszeiten und bis zu 30 Prozent niedrigerem Gehalt als zuvor. Etwa 5000 von 19.000 Betroffenen fordern deshalb die Wiederaufnahme in die Bundespolizei. Als weitere 150 Beamte zur städtischen Polizei abgeschoben werden sollten, griffen diese im Oktober zu den Waffen und besetzten vorübergehend das Innenministerium der Stadt Buenos Aires. Gelöst ist der Konflikt weiterhin nicht. Die Eskalation des Wochenendes könnte eine Drohung an Macri sein, sich schnell um die Angelegenheit zu kümmern. Der Staatschef hat als Gastgeber des G20-Gipfels am kommenden Wochenende viel zu verlieren. Macri war zehn Jahre lang Vereinspräsident der Boca Juniors und kam so in die Politik.


Es zählen nur Geld und Gewalt

Wenn die Barras Bravas so mächtig sind - wie sind sie organisiert? Wo in der Politik mischen sie mit und wie? Die Antworten sind in einem Land, in dem mehr als 30 Prozent der Einwohner als arm gelten, Korruption an der Tagesordnung ist und die Wirtschaft in der Krise, wichtiger denn je.

Die Barras Bravas sind komplett informell strukturiert. Was zählt, sind Geld und Gewalt. Bei kleinen Klubs machen sie bisweilen bis zu 70 Prozent der aktiven Fanszene aus, bei größeren etwa 5 bis 10 Prozent davon. Dennoch schwindet damit nicht ihre Macht auf der Stehplatztribüne. Die Barras Bravas bilden ähnlich wie die Ultras in Europa den harten Kern der Anhängerschaft eines jeden argentinischen Vereins, koordinieren die Gesänge auf der Tribüne, prügeln sich für ihre Farben und erbeuten fremde Fahnen als Trophäen.


Allerdings pflegen sie keinerlei ästhetischen Dresscode oder Idealismus gegen den "modernen Fußball" und suchen im Unterschied zur europäischen Ultra-Bewegung bewusst die Nähe zum Verein. Dies tun sie meist ausschließlich, um diesen zu infiltrieren oder aus einer durch Gewaltandrohung erzwungenen Beziehung zu führenden Funktionären Kapital zu schlagen. Diese Gier nach Geld und Macht überschreitet in Einzelfällen sogar die Zugehörigkeit zu einer Fangruppe. "Es gibt welche, die eigentlich Fan von einem Verein sind, aber bei einem anderen als Barra aktiv sind", betont Fußballhistoriker Jan-Henrik Gruszecki, der sowohl zu Barras Bravas als auch zu Ultras Kontakte pflegt und Filme gedreht hat.


In der internen Hierarchie einer Barra spricht man von drei Linien. Die oberste umfasst einen Anführer und seine an einer Hand abgezählten Vertrauensmänner. Der sogenannte "Capo" ist eine Person des öffentlichen Lebens oder ein im Stadtviertel bekannter Haudegen: Wie etwa Rafael di Zeo. Der ehemalige Chef von Bocas Juniors "La Doce" saß jahrelang im Knast, schreibt aber am Stadion Autogramme. Streifenpolizisten knipsen ehrwürdig Selfies mit ihm. Dahinter folgt die zweite Linie, ein Rudel von kläffenden, erwachsenen Alpha-Tieren, die Bereiche wie Drogen, illegale Parkwächter, Musikkapelle, Vereins- oder Polizeikontakte kontrollieren und jeweils größere Schlägertrupps aus bestimmten Stadtvierteln mobilisieren können. Diese wiederum bilden die diffuse dritte Linie: gewaltbereite Kutten, die mit der Barra anreisen oder Jugendliche aus prekären Verhältnissen. Für Anerkennung, eine Eintrittskarte oder ein Päckchen Koks gehen sie über Leichen.


Funktionäre profitieren von Barras Bravas

Auch die Klubpräsidenten müssen über Mittelsmänner die Barras Bravas bestechen, um nicht abgesetzt zu werden. Die Anhänger erpressen die Bosse mit einer Art Schutzgeld: Bekommen die Barras regelmäßig Geld oder Tickets, für sich oder den Schwarzmarkt, sorgen sie für gute Stimmung auf der Tribüne. Und sie garantieren parallele, die Fans bändigende Machtstrukturen in und um das Stadion. Nimmt der Verein mehr Geld ein, weil er zum Beispiel einen Spieler verkauft, steigen die Forderungen. Wer sich wehrt, wird gestürzt. So erging es vor ein paar Jahren Javier Cantero beim Klub Atlético Independiente, der mit seiner Mannschaft bei einer Mitgliederversammlung regelrecht aus dem Saal geprügelt wurde. Cantero wollte nicht mehr zahlen - wurde aber schnell als "zu naiv" abgekanzelt und verlor jeglichen Rückhalt.


Andererseits sind zwielichtige Fußballfunktionäre an der Nähe zu den Barras Bravas interessiert, weil diese je nach Klubgröße Hunderte bis Tausende Menschen bewegen. Die Klubs sind eingetragene Vereine, die Mitglieder wählen ihre Präsidenten. Weil die Wahlbeteiligung oft gering ist, reichen bereits mehrere Hundert gekaufter Stimmen, um an die Macht kommen. Die Klubchefs nutzen ihre Barra auch für politische Zwecke. Legendär war das bei Chacarita Juniors' Ex-Präsidenten Luis Barrionuevo, der lange gleichzeitig Vorsitzender der Gastronomiegewerkschaft war. Um den Druck bei politischen Demonstrationen zu erhöhen, ließ er seine Barra aufmarschieren. Bei Independiente, dem drittgrößten Klub des Landes, ist der jahrzehntelange Chef der Fernfahrergewerkschaft Hugo Moyano der Präsident. Das grüne Logo der Gewerkschaft ist häufig auf der Tribüne zu sehen. Bei Straßenblockaden der Fernfahrer, die das Land lahmlegen, tauchen Demonstranten in Independiente-Fanutensilien auf.


Die "Borrachos del Tablón"

Der Vorsitz einer Barra bringt also viel Macht und Geld mit sich. Bei River Plate sogar umso mehr, weil die Kontrolle über das Estadio Monumental dazugehört; dort, wo der Superclásico stattfinden sollte. Im Norden der Hauptstadt treten auch regelmäßig Berühmtheiten wie Madonna, Pink Floyd oder Lionel Messi mit der argentinischen Nationalelf vor zahlungskräftigem Publikum auf. Der Schwarzmarkt blüht. Die Barra kontrolliert bei Veranstaltungen meist exklusiv einen Zugang.


Angeführt wurden "Los Borrachos del Tablón" viele Jahre von Alan Schlenker und Adrian Rousseau, dessen sozialer Hintergrund der oberen Mittelklasse bereits an ihren Nachnamen abzulesen ist. Die beiden eloquenten Bodybuilder kontrollierten zur Jahrtausendwende eine Armee von Türstehern, die es im Faustkampf problemlos mit der Polizei aufnahm. Dessen "erste Linie" kam bei der WM 2006 angeblich bei River Plates ehemaligem Spieler Martin Demichelis in München unter.


Die Hierarchie der Borrachos zerbrach nach dem nie vollständig aufgeklärten Mord am engsten Vertrauten Rousseaus, für den Alan und sein Bruder William lebenslänglich in Haft sitzen. Es entstand ein Machtvakuum, das mehrere Fraktionen in der Barra zu füllen versuchten. Mal prügelten Hunderte Dissidenten die anführende Gruppierung von den symbolträchtigen Wellenbrechern im Zentrum der Stehplatztribüne, mal gab es interne Kämpfe mit Messern und Schusswaffen vor dem Stadion. Damals trat auch der heutige Chef Godoy auf den Plan, der einst sogar Angestellter des Klubs war und seit 2009 als Kopf der Borrachos gilt.


Spiel wird aus dem Land getrieben

Die Barra Brava, die mutmaßlich die Absage des wichtigsten Spiels der bisherigen argentinischen Klubfußballgeschichte erzwang, hat also eine bewegte Vorgeschichte. Kein Wunder, dass Bocas Spieler nach dem Angriff auf ihren Bus schlicht Angst hatten, im nur mit River-Fans besetzten Stadion aufzulaufen. Auswärtsfans sind in Argentiniens nationalen Wettbewerben seit 2013 verboten und wurden auch für das Finale nicht erlaubt. Den beiden Klubs und dem südamerikanischen Fußballverband Conmebol ist die Situation in Argentinien noch immer zu heikel, denn wer weiß, was beim nächsten Mal passieren würde. Am 8. oder 9. Dezember wollen sie erneut versuchen, einen Sieger zu ermitteln.


Dieser soll am 18. Dezember bei der Klub-WM in den Vereinigten Arabischen Emiraten auf dem Rasen stehen, der Ball muss also bald rollen. Vorsorglich soll der Superclásico nun im Ausland stattfinden. Über den Spielort werde noch entschieden, heißt es. Die italienische Hafenstadt Genua und Belo Horizonte in Brasilien, wo Deutschland das WM-Halbfinale 2014 gegen den Gastgeber mit 7:1 gewann, haben ihr Interesse angemeldet. So weit reicht der Arm der Barras Bravas womöglich nicht.


Quelle: ntv.de

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