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„Wo wollt ihr denn hin, zum Mond?"

Kurios

Per Anhalter durch die Provinz und um die Wette - wer macht denn so was? Die ersten deutschen Sporttramper! Von Veronika Widmann, MZ

Evingsen.Der Tag fängt nicht gut an für uns. Es ist kurz vor neun an einem Samstagmorgen in Evingsen, einem verschlafenen Dorf im Sauerland. Zu acht stehen wir um einen Tisch. „Mach du mal, ich habe immer Würfelpech", sagt mein Teampartner Stefan und drückt mir einen Würfel in die Hand. Also werfe ich - eine Eins. Die anderen drei Teams grinsen schadenfroh: Stefan und ich werden als letzte ins Rennen starten. Das Team mit der Fünf auf dem Würfel macht sich bereit, um Punkt neun rennen sie los Richtung Hauptstraße.

Uns bleibt Zeit für einen letzten Blick auf die Landkarte. Sechs Kontrollpunkte sind darauf mit Kuli eingetragen, kreuz und quer verteilt über das Sauerland. Bis spätestens Sonntagmittag müssen wir alle sechs Stationen passieren und wieder dort ankommen, wo wir im Moment gerade stehen - am besten natürlich vor den anderen Teams. Was das bringen soll? Vor allem Spaß und den Kick des Wettbewerbs.

Schnitzeljagd nach allen Regeln der Kunst

„Sporttrampen ist ein bisschen wie Schnitzeljagd für Erwachsene", sagt Stefan. Der Russe Alexej Worow, eine Ikone unter Trampern, erfand den Sport in den 70ern, seine St. Petersburg Autostopp League begriff er als kleine Rebellion gegen das Sowjetregime. Vor zwei Jahren haben Stefan und einige Gleichgesinnte die Deutsche Trampsport Gemeinschaft (DTSG) gegründet. Neun Seiten umfasst das russische Regelwerk, sieben die ins Deutsche übersetzte Version. Pausenzeiten, Startreihenfolge, Sanktionen und Positionierung an der Straße sind darin bis ins Detail geregelt.

Stefan muss selbst grinsen, als er davon erzählt - die deutschen Sporttramper sehen manches etwas lockerer als die russischen. Die wichtigste Regel versteht sich ohnehin von selbst: Nur Trampen und Laufen sind erlaubt. Bus, Bahn und Taxi verstoßen für die meisten Teilnehmer sowieso gegen die Ehre: Trampen ist für sie eine Lebenseinstellung. Über Raststätten und Autobahnnummern reden sie wie andere über Popmusik und natürlich sind am Vortag alle außer mir stilecht angereist.

Priorität hat der, der zuerst an einem Platz steht

Um 9.14 Uhr schultern Stefan und ich unsere Rucksäcke: Essen und Trinken für unterwegs, Zelt, Isomatte und Schlafsack, falls wir die Nacht im Freien verbringen müssen. Eine Minute später dürfen auch wir endlich los. Bis zum ersten Kontrollpunkt wollen wir die kleineren, dafür direkten Straßen nehmen - auch deshalb, weil wir nicht sofort auf die anderen Teams stoßen wollen. Denn eine der Regeln besagt, dass wer zuerst an einem Platz steht, auch zuerst wegtrampen darf. „Priorität" heißt das unter Sporttrampern.

Nach 25 Minuten Fußmarsch durchs Dorf stoßen wir auf eine Landstraße. Der erste Fahrer, der für uns anhält, will nur Brötchen holen ums Eck. Dafür winkt uns der Fahrer hinter ihm zu sich. Klar könne er uns nach Neuenrade mitnehmen. Wir steigen in das erste von 27 Autos, in denen wir heute sitzen werden. Wo wir denn hinwollten? Nun ja, erst einmal zu einer Burg in der Nähe, dann ein wenig im Kreis und schließlich zurück nach dort, wo wir gerade herkommen. Ahja. Dem Fahrer scheint die Idee zu gefallen, denn er bietet uns an, uns ein wenig weiter zu einer Kreuzung zu bringen, von der wir gut weiterkommen. Wir nehmen an - und legen damit eine der Regeln großzügig aus. Eigentlich dürfen die Fahrer für uns keine Umwege machen.

Vier Autos, einen Unimog und 13 Kilometer später kommt uns zum ersten Mal unser skurriles Outfit zu Gute. Stefan trägt einen knalligen rot-gelben Overall, ich eine passende Jacke: die Uniform der Sporttramper. Die Idee kommt, natürlich, von den Russen, die Ausführung auch. Großmeister Alexej Worow näht die Anzüge persönlich nach Maß, dazu passend einen quadratischen Rucksack, in den alles Überlebenswichtige passt. Stefan sieht darin aus wie ein Fallschirmspringer auf dem Weg zum Flugplatz. Oder wie ein Astronaut, findet zumindest die junge Frau, die neben uns hält. „Wo wollt ihr denn hin, zum Mond?", fragt sie lachend und gesteht, dass sie uns ohne die auffälligen Uniformen wohl nicht mitgenommen hätte.

Der Sticker beweist: Wir waren schon dort!

„Ach Mist, da sind Philip und Koen", sagt Stefan. „Und da drüben Ben und Tom". Auf einem Hügel über uns thront Burg Schnellenberg, unser erster Kontrollpunkt. An der Straße, an der wir gerade rausgelassen wurden, stehen zwei andere Teams - und die waren offensichtlich schon oben, wollen sie doch schon wieder weg. Ich zücke das kleine gelbe Allwetter-Notizbuch, in dem ich unser Logbuch führe und notiere den „Kontakt". Über die Eintragungen kontrollieren die Teams sich gegenseitig. Wer ist wann in welches Auto ein und wo wieder ausgestiegen? Wer hat wen wann gesehen und stimmt das mit den anderen Logbüchern überein?

Auf dem Hügel angekommen kleben wir hastig einen Sticker mit unserer Ankunftszeit auf eine zuvor vereinbarte Straßenlaterne, immerhin sind wir Dritter und haben schon ein Team überholt. Wir werfen einen Blick auf die Burg, dann sind wir wieder weg.

Für Sightseeing bleibt keine Zeit beim Sporttrampen. Von unseren Fahrern erhalten wir dafür eine kleine Heimatkunde des Sauerlandes. Hinterher wissen wir, dass in Altena das Drahtziehen erfunden wurde, in Evingsen der weltgrößte Produzent von Stricknadeln sitzt und hinter welcher Leitplanke das Revier der ersten freilebenden Wisentherde Deutschlands beginnt. Als aber schon der zweite Fahrer den angekündigten Bodenfrost erwähnt, zweifle ich langsam daran, ob eine Nacht im Zelt eine gute Idee ist.

Ein „Lift" im BMW Cabrio - was für ein Glück!

Stefan hat darauf ohnehin keine Lust. Schon am Abend zuvor hat er mit der Aussage vorgelegt, wir würden die Strecke auf jeden Fall an einem Tag schaffen. Jetzt müssen wir liefern - und tatsächlich beginnt kurz hinter dem ersten Checkpoint unsere Glückssträhne. Wir bekommen einen „Lift", der direkt zu unserem nächsten Kontrollpunkt fährt - und das auch noch in einem BMW Cabrio. Ja, früher, da sei er auch getrampt, erzählt der Fahrer wie so viele an diesem Tag.

Am Vorfahrtschild in Enkhausen dann der erste Triumph des Tages: Wir sind die ersten, die einen Sticker ankleben! Und glücklicherweise sind wir auch schnell wieder weg: „Ihr saht so lustig aus in euren Anzügen."

Wir genießen unseren Vorsprung und winken schadenfroh, als ein anderes Team ungläubig an uns vorbeifährt, wohl wissend, dass wir bereits von dem Punkt kommen, zu dem sie erst unterwegs sind. Nie stehen wir länger als ein paar Minuten, bis ein Auto für uns hält. Vielleicht liegt es an der Uniform, vielleicht daran, dass wir ein gemischtes Team sind. „Hast Glück gehabt, dass sie dabei war. Alleine hätte ich dich nicht mitgenommen", sagt jedenfalls einer der Fahrer zu Stefan, während er mit der Hand in Richtung Rücksitz zu mir gestikuliert.

Auch die nächsten drei Kontrollpunkte erreichen wir so als Erste. Nur noch einer liegt vor uns, als wir in einen grünen Allradwagen steigen. Drinnen sitzt ein älterer Mann in Karohemd und grünem Wollpulli. Er ist auf dem Weg zur Jagd, zwei leere Plastikeimer stehen im Kofferraum, den ganzen Rücksitz nimmt sein Gewehr ein. Besorgt schaut er nach hinten als ich meinen Rucksack vorsichtig daneben schiebe. Auf den nächsten Kilometern umarme ich das Gewehr auf meinem Schoß.

An der Autobahnauffahrt lässt der Jäger uns raus. „Lass mal schauen, dass wir hier schnell wegkommen. Eigentlich dürfen wir hier nicht stehen", sagt Stefan und schaut sich unruhig um. Ein paar Hundert Meter zuvor ist die Bundesstraße zur Kraftfahrstraße geworden. „Wenn die Polizei kommt, stellen wir uns einfach dumm", sagt Stefan noch, da hält schon ein Auto neben uns. Glück gehabt!

Kaum sind wir an der nächsten Raststätte ausgestiegen, joggt Stefan zum nächsten Auto und spricht den Fahrer an. Ob er zufällig Richtung Köln fahre? Tut er nicht und auch sonst keiner, den wir in den nächsten zehn Minuten fragen. In den vergangenen Stunden wurden wir verwöhnt, ziemlich schnell sind wir frustriert. Aber immerhin sind bei mir alle Skrupel verschwunden. Als ein Auto auf die Raststätte fährt, dessen Fahrer nur kurz auf sein Handy schauen will und nicht einmal den Motor abstellt, renne ich sofort hin und setze mein gewinnendstes Lächeln auf. Begeistert ist der Fahrer nicht, aber er nimmt uns mit. Ich bin ein bisschen stolz auf mich.

Die anderen hängen Teams hängen fest und müssen zelten

Um 20:44 Uhr, elfeinhalb Stunden nach dem Start, kleben wir den letzten Sticker auf einen Kleiderständer in unserer Unterkunft in Evingsen. Geschafft - und gewonnen! Wir umarmen uns grinsend und haben nur wenig Mitleid, als Stefan kurz darauf einen Anruf von einem anderen Team bekommt: Sie hängen fest, im Dunkeln nimmt sie keiner mehr mit. Gleich werden sie ihr Zelt aufstellen. Team Drei trudelt kurz vor Mitternacht ein, Team Vier hat schon am ersten Kontrollpunkt beschlossen, lieber ein wenig Sightseeing zu machen.

„Die Russen würden jetzt erst einmal Tee trinken", sagt Stefan und macht sich stattdessen ein Bier auf, das Alkoholverbot im Regelwerk ignorierend. Seinen rot-gelben Overall trägt er immer noch wie eine zweite Haut. Und auch ich bin auf den Geschmack gekommen: Am nächsten Morgen trampe ich nach Hause.

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