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Interview

Der Anrufbeantworter Gottes

Seine Nummer steht auf den Decks von Flüchtlingsbooten
und ist eingespeichert in Hunderten von
Telefonen. Jede Woche rettet Pfarrer Mussie Zerai
mit seinem Handy im Mittelmeer Leben

Ein kopfsteingepflastertes Dorf
zwischen Zürich und Basel, mittendrin
eine weiß getünchte Kirche
mit spitzem Turm, daneben
das kleine Pfarrhaus mit Vorgarten.
Von dort kommt jetzt, in
Gummischlappen, Mussie Zerai.
Der Priester mit dem Mobiltelefon.
Vergangenes Jahr war er für den Friedensnobelpreis
nominiert, in Afrika nennen
die Menschen ihn „Schutzengel der
Flüchtlinge“. Viele Tausend Menschen hat
Mussie Zerai gerettet, doch er ist kein Mann,
der christliches Handeln an die große Glocke
hängt. „Wer nur ein Leben rettet, rettet
die ganze Welt“, sagt er. In diesen Tagen
klingelt sein Telefon wieder häufiger. Das
UNHCR warnt: 2016 droht das tödlichste
Jahr im Mittelmeer zu werden. Von 88 Menschen,
die sich auf die Überfahrt machen,
kommt einer ums Leben, allein 3740 Tote
wurden bislang gezählt. „Lieber Baba, hilf
uns schnell. Wir haben kein Essen, kein
Wasser, der Handyakku ist fast leer“, steht
in einer Nachricht, die er während des
Gesprächs
zeigt. In den Mitschnitten der
Telefonate – er nimmt alle Notrufe auf, seit
er einmal ein Boot nicht retten konnte –
sind verzweifelte Stimmen zu hören, dazwischen
Weinen, Schreien.
Für dieses Gespräch hat Mussie Zerai die
Anrufe an eine befreundete Organisation
weitergeleitet. Er sagt: „Sonst könnte ich
keine Minute in Ruhe mit Ihnen reden.“

Sie sehen müde aus.

Ja, wie immer. Die Flüchtlinge haben viele
Probleme. Ich muss Lösungen suchen.
Das ist nicht einfach. Mein Telefon klingelt
ständig.

Wer ruft Sie an?

Vor allem Menschen aus Eritrea oder
Äthiopien, manchmal auch Flüchtlinge aus
Westafrika. Seit ein paar Monaten kommen
auch Notrufe von Syrern, dabei spreche ich
doch kein Arabisch. Ich habe keine Ahnung,
woher die meine Nummer haben.

Ist es wahr, dass Sie Ihr Telefon niemals
ausschalten?

Ja. Mein Telefon ist immer an. Auch nachts.
Da kommen die meisten Notrufe vom Mittelmeer.

Sie gehen immer ran?

Ja. Es passiert sehr, sehr selten, dass ich
mal einen Anruf verschlafe. Das Telefon
liegt direkt neben meinem Bett. Wenn auf
dem Display eine Satellitentelefonnummer
erscheint, das erkenne ich an der Vorwahl
0088, dann ist es dringend.

Können Sie bei dieser Verantwortung
trotzdem schlafen?

Ich habe mich daran gewöhnt. Am Anfang
fiel es mir schwer. Aber ich habe einen
leichten Schlaf und bin schnell hellwach.

Haben Sie in den letzten Tagen viele Menschen
vom Mittelmeer aus angerufen?

Ja. Die meisten waren auf kleinen Schlauchbooten
unterwegs. Auf einem war der
Motor explodiert, vier Menschen sind verbrannt.
Aber leider hat mich niemand von
den Booten angerufen, die bei dem besonders
furchtbaren Unglück im Mai in
Seenot geraten sind. Vielleicht hätte ich
etwas tun können! Ein Überlebender hat
sich später bei mir gemeldet.

Was erzählte er?

Er war auf einem der Boote, die in der Nacht
vom 25. auf den 26. Mai gesunken sind. Er
sagte, dass die Schlepper zwei Boote mit
einem Seil verbunden hatten, weil das eine
keinen Motor hatte. Im ersten waren 550
Menschen, im zweiten 450, fast alle kamen
aus Eritrea und Äthiopien. Irgendwann gelangte
Wasser in das zweite Boot, es begann
zu sinken. Jemand aus dem ersten Boot
kappte die Leine – sonst wären sie auch gesunken.
Sieben Männer konnten zu dem
ersten Boot schwimmen und sich retten.
Was sagen Sie den Menschen in Seenot?
Ich versuche, ihnen Mut zu machen. Ich
wiederhole wie ein Mantra die Sätze: Macht
euch keine Sorgen. Und: Hilfe kommt. Ich
sage das nicht nur für sie, ich sage das auch
für mich. Es dauert meist eine Weile, bis ich
die Menschen beruhigen kann. Viele denken
nämlich, sie müssten möglichst laut
schreien und weinen, um mich zu überzeugen,
dass die Rettung nötig ist.

Und dann kommen Sie und sagen: Ruhe
bewahren.

Ja, das ist wirklich schwierig. Mein Ziel ist
immer, die Person, mit der ich am Telefon
rede, zum Anführer der Gruppe zu machen,
zu meinem Sprachrohr. Wenn ich das
Gefühl habe, dass mein Gesprächspartner
ruhig ist, sage ich ihm, er soll meine Worte
laut und langsam für die anderen wiederholen.
„Father Mussie ist hier, um euch zu
helfen. Er wird jemanden finden, der euch
rettet.“ Dann stelle ich meine Fragen.

Welche?

In welchem Zustand ist das Boot? Wie
viele Frauen und Kinder sind an Bord? Ist
jemand verletzt? Sind Schwangere dabei?
Einmal berichtete mir ein Mann, dass 150
Menschen auf einem Schlauchboot in großer
Gefahr seien. Eine Luftkammer war
kaputt, Wasser lief schon hinein. An Bord
waren Verletzte. Dann stellte ich die wichtigste
Frage: Wie ist eure Position? Der
Mann wusste nicht, wie man aus dem
Satellitentelefon die GPS-Daten ablesen kann.
Ich erklärte es ihm, ließ mir eine
SMS mit den Daten schicken. Die gab ich
an die Küstenwache und die Rettungsleitstelle
in Rom weiter. Ich hatte gerade aufgelegt,
da rief der Mann noch einmal an.
Ich musste ihn wieder beruhigen.

Das muss auch für Sie eine Extremsituation
gewesen sein.

Ja, die Verantwortung ist groß. Aber wenn
ich die Informationen an die Küstenwache
weitergegeben habe, kann ich erst einmal
nichts mehr machen. Ich sage immer:
„Bleibt ruhig, jemand kommt“, aber im
Grunde weiß ich ja auch nicht, was passiert.

Wie lange dauerte es in dieser Nacht, bis
Sie wieder etwas vom Boot hörten?

Es dauerte eine Weile. Aber während ich
wartete, kam schon der nächste Hilferuf. Ein
Holzboot mit 700 Menschen. Und um sechs
Uhr meldete sich noch ein drittes Boot in
Seenot. Ich rief immer wieder die Menschen
auf den Booten an, ich wollte sie beruhigen.
Irgendwann am Vormittag verlor ich den
Kontakt zu den Menschen auf dem Schlauchboot.
Die Funkstille war grausam.

Was ist mit den Booten passiert?

Gegen Mittag erfuhr ich von der Küstenwache,
dass alle gerettet wurden. Ich kann
Ihnen gar nicht sagen, wie erleichtert
ich war.

Einmal konnten Sie ein Boot nicht retten.

Ja. Das war 2011. Ich wachte morgens auf
und sah, dass ich einen Anruf von einem
Satellitentelefon verpasst hatte.
Ich rief sofort zurück.
An Bord waren 72 Menschen,
darunter Babys und Kleinkinder. Sie sagten,
sie hätten nicht genug zu essen, kein Wasser,
kaum Benzin im Tank. Der Kapitän war
aus Ghana, er wusste nicht, wie man aus
dem Satellitentelefon die Position herausliest,
und er verstand meine Erklärung
nicht. Irgendwann fand ich heraus, dass sie
60 Meilen von Libyen entfernt waren, in
internationalem Gewässer. Ich gab diese
Informationen an die Küstenwache weiter,
wie immer. Dort sagte man mir, man werde
die Position an alle Schiffe in der Umgebung
schicken. Am Nachmittag verlor ich den
Kontakt zu dem Schiff. Ich versuchte es immer
wieder, aber das Telefon war tot. Ich rief
die Küstenwache an. Wieder und wieder.
Irgendwann sagte man mir, ich solle mich
bei der Nato melden.

Konnte man Ihnen dort weiterhelfen?

Der Mann, mit dem ich sprach, sagte, er
würde seinen Vorgesetzten informieren.
Ich habe dann auch bei der italienischen
Marine angerufen. Dann konnte ich niemanden
mehr anrufen. Nur warten.

Was war mit dem Schiff passiert?

Nach 15 Tagen rief mich ein Eritreer an.
Er sagte, dass seine Schwester auf einem
Boot im Mittelmeer gestorben war. Er hatte
von einem Überlebenden gehört, dass
man mich vorher von diesem Boot aus
angerufen hätte. Später erfuhr ich, dass das
Schiff an die libysche Küste gespült worden
war. Dass die entkräfteten Überlebenden
von der Polizei festgenommen worden
waren, dass sie keine ärztliche Versorgung,
kaum zu essen und zu trinken bekamen.
Dass von den elf Überlebenden zwei starben,
weil sie zu schwach waren. Einer noch
direkt an der Küste, einer im Gefängnis.
Sie hatten doch die Position des Schiffes
an die Küstenwache und die Nato gegeben.
Warum wurde das Boot nicht gefunden?
Das frage ich mich bis heute. Die Überlebenden
erzählten mir, dass kurz nach unserem
Telefonat ein Helikopter über ihnen
auftauchte. Später kam ein zweiter Hubschrauber,
er ging sehr tief und jemand warf
Wasser und Kekse ab. Als der Kapitän sah,
dass der Hubschrauber so nah kam, warf
er den Kompass und das Telefon über Bord.

Wieso?

Er wollte nicht als Schlepper beschuldigt
werden. Er dachte, man würde sie nun bald
retten. Kurz darauf ging ihnen der Treibstoff
aus. Die Überlebenden erzählten, dass
sie in den nächsten Tagen auf zwei Fischerboote
trafen, eines aus Italien, eines aus
Libyen.
Der italienische Fischer sah sie, holte
sein Netz ein und drehte ab. Der libysche
Fischer sagte ihnen, sie müssten in die andere
Richtung fahren, um nach Europa zu
kommen. Nach zwei, drei Tagen im Meer
trafen sie auf einen Flugzeugträger. Die
Überlebenden sagten mir, dass er um sie
herum fuhr, gerade einmal 400 Meter entfernt.
Die Flüchtlinge hielten ein Baby
hoch, das gerade gestorben war, und schrien
um Hilfe. Das Schiff fuhr weiter. 15 Tage
brauchte der Wind, um das Boot an die
libysche Küste zu tragen. In diesen Tagen
begannen einige, Meerwasser zu trinken,
andere Urin. Manche aßen Zahnpasta.
Am Ende waren mehr als 60 Menschen tot.

Sie klingen zornig.

Man hätte doch helfen müssen. Ich habe
doch mit ihnen gesprochen. Ich hatte alle
angerufen, die hätten helfen können. Da
war doch ein Militärschiff, da waren Helikopter.
Warum hilft jemand, der diese
Menschen sieht, der ein totes Baby sieht,
nicht? Das werde ich nie verstehen. Das beschäftigt
mich bis heute jeden Tag.

Konnten Sie die Schuldigen finden?

Bisher nicht. Der Europarat hat Untersuchungen
angestrengt, die Nato weigert sich,
Informationen herauszugeben, und wir
wissen bis heute nicht, welcher Nation die
Helikopter oder das Kriegsschiff gehörten.

Glauben Sie, so etwas könnte immer noch
passieren?

Ich habe von mehreren Fällen erfahren, in
denen ein Militärschiff Flüchtlingen nicht
geholfen hat. Aber glücklicherweise konnte
ich in den letzten Jahren immer rechtzeitig
andere Hilfe vermitteln.

Wieso rufen all die Menschen eigentlich
ausgerechnet Sie an?

Das begann 2003. Ein Journalist bat mich,
für ihn zu übersetzen. Er interviewte Eritreer,
die in libyschen Gefängnissen festgehalten
wurden. Danach half ich ihnen
freizukommen. Einige ehemalige Gefangene
riefen mich kurz darauf vom Mittelmeer
aus an, sie waren in Seenot.

Wussten Sie damals schon, was Sie tun
mussten?

Zuerst habe ich den Anruf gar nicht ernst
genommen. Ich fragte: „Macht ihr Witze?“
Aber dann hörte ich die Schreie, die Kinder,
die weinten. Ich sagte: Ich werde sehen, was
ich tun kann. Ich wusste ja gar nicht, wen
ich anrufen sollte. Dann erinnerte ich mich
daran, dass ich irgendwo gelesen hatte,
dass die Küstenwache in solchen Situationen
zuständig ist.

Konnten Sie helfen?

Die Küstenwache fragte mich nach der
Position des Schiffs. Aber ich hatte keine
Ahnung. Schließlich fragten sie mich nach
der Nummer des Mannes in Seenot und
riefen selbst an. Später erklärten sie mir,
wie ich vorgehen sollte, falls ich noch mal
einen solchen Anruf bekommen sollte.

Woher kannten die Menschen Ihre
Nummer?

Die Eritreer, die ich aus dem Gefängnis
befreit hatte, hatten sie dort an die Wand
geschrieben. Viele Flüchtlinge, die dort
inhaftiert waren, merkten sie sich offenbar
für Notfälle. Es muss sich rumgesprochen
haben, dass ich helfe. Heute steht
meine Nummer an vielen Wänden in
Afrika, ich habe sie sogar auf Fotos von
Flüchtlingsbooten gesehen, aufs Deck
gekritzelt. Als ich neulich nach einem
Unglück auf Lampedusa war, hörte ich
einen Mann in meiner Nähe sagen: „Father
Mussie hätte bestimmt geholfen.“ Da stellte
ich mich vor, und er sagte: „Ich hatte
mir einen weisen, alten Mann vorgestellt.“
Die Erwartungen an mich sind hoch.

Jede Woche bekommen Sie Hilferufe, jede
Woche sterben Menschen. Sie reden auf
Politiker ein, aber nichts passiert. Macht
Sie das nicht wütend?

Manchmal schon. Aber Wut ändert nichts.
Ich muss die Politik immer wieder mit dem
Leid der Flüchtlinge konfrontieren. Es gibt
keine Alternative. Ich muss nerven.

Was dachten Sie, als Medien vor einigen
Monaten das Bild des toten Babys im Arm
eines Helfers gezeigt haben?

Ich fragte mich, wieso die Reaktionen auf
das Bild des toten Babys viel weniger
emotional,
weniger stark waren als die nach der
Veröffentlichung des Fotos von dem toten
syrischen Jungen am Strand. Ich habe
überhaupt das Gefühl, dass diese Tragödie
für die Menschen normal wird, sie stumpfen
ab. Sie regen sich vielleicht eine halbe
Stunde auf, dann vergessen sie es wieder.
Das ist schrecklich! Wir erleben die größte
Tragödie unseres Jahrhunderts! Nur wenn
die Europäer solidarisch mit den Flüchtlingen
sind, wenn sie sich klarmachen, dass
das auch Menschen sind, die dieselben
Rechte haben, ändert sich etwas.
Wir reden immer von „Bootsunglück“.
Ja, als seien die Toten etwas Unvermeidliches,
dem wir nichts entgegensetzen können.
Doch hinter diesem Unglück stehen
Schuldige. Und die EU ist verantwortlich,
darüber muss man reden.

Worüber konkret wollen Sie reden?

Warum zwingen wir Europäer die Flüchtlinge
dazu, diesen schwierigen Weg zu gehen?
Viele sterben, viele werden traumatisiert,
viele enden verstümmelt, behindert,
geistig oder körperlich. Warum schaffen
wir keine legalen Wege, die den Menschen
all diese Strapazen ersparen würden, damit
sie in Europa Asyl beantragen können?
Es wäre so einfach.

Wie könnte es gehen?

Es muss den Flüchtlingen in den Transitländern
wie Libyen, Äthiopien und Ägypten
ermöglicht werden, Asyl in europäischen
Botschaften zu beantragen, sodass
sie nicht gezwungen sind, sich Schleppern
auszuliefern. Vor allem aus Libyen und
Ägypten bekomme ich viele Anrufe, dort
gehen die Menschen immer brutaler mit
Schwarzen um. Mich hat ein junger Eritreer
angerufen, der in Ägypten entführt
worden war und erst freikam, als seine
Familie Lösegeld schickte.

Haben Sie jemals Ihr Telefon verloren?

Nein. Ich darf mein Telefon nicht verlieren.
Ich hüte nichts mehr als mein Telefon.
Sie können nicht abschalten.
Inzwischen schon. Jetzt sitze ich hier mit
Ihnen, und mein Telefon liegt in meinem
Zimmer. Die Anrufe, die vom Mittelmeer
eingehen, habe ich umgeleitet an die Leute
von Watch the Med, einer Organisation,
die seit zwei Jahren ein Notruftelefon für
Flüchtlinge betreibt. Das mache ich jetzt
ab und zu so. Denn an manchen Tagen
bekomme ich mehr als 300 Anrufe, das
schaffe ich nicht mehr allein.

Ein Vorgesetzter sagte mal zu Ihnen:
Du bist nicht der Retter der Welt.

Ja, das ist Jesus Christus. Der Satz hilft mir.
Ich muss damit leben, dass ich nicht alles
ändern kann. Ich kann nur das tun, was in
meiner Macht steht.