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Arte über den Ukrainekrieg: Die Wahrheit ist eine Nadel, sie sticht

Die Journalistin Masha Borzunova tritt gegen Fake News an. Bild: Denis Kaminev

Was haben eine russische Seniorin, ein ukrainischer DJ und eine litauische Journalistin gemeinsam? Sie engagieren sich im Kampf gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Das zeigt die Arte-Serie „Tracks East“.

Kein „Westsplaining" mehr: Das verspricht die neue Doku-Serie „Tracks East" von Arte. Der Diskurs über den Krieg in der Ukraine soll nicht mehr von westeuropä­ischen Intellektuellen geführt werden, sondern Menschen aus Südosteuropa, Russland und dem Baltikum selbst zu Wort kommen lassen. In 10 Folgen dokumentiert Arte das Schaffen von Künstlern, Aktivisten und Journalisten aus dem postsowjetischen Raum und macht dafür den Sendeplatz des Magazins „Tracks" frei, das sich im Wochenrhythmus mit popkulturellen Er­eignissen auseinandersetzt.

Für „Tracks East" wurden Filmemacher der Post-Ost-Generation engagiert, Kinder russlanddeutscher Migranten, die ihr in die Wiege gelegtes Netzwerk nutzten und für den Dreh osteuropä­ische Journalisten mit ins Boot holten. Und das merkt man: Die Auswahl der Protagonisten beeindruckt und berührt. Da ist der ukrainische DJ, der sich nun gezwungen sieht, zur Waffe zu greifen. Da ist die litauische Journalistin, die den See vor der russischen Botschaft in der Stadt Vilnius rot färbte. Und da ist die über 70-jährige Künstlerin Jelena Ossipowa, die mit selbst gemalten Plakaten in Sankt Petersburg auf die Straße geht, obwohl ihr das lange Stehen immer schwerer fällt. Die Doku-Serie zeigt auch, wie mit Goldschmuck behangene und in Pelzmäntel gehüllte Russinnen die Seniorin be­schimpfen. Doch Russland verlassen würde Ossipowa nie. „Schweigen bedeutet Zu­stimmung", erklärt sie und zitiert den spanischen Maler Goya: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer."

Die erste Folge von „Tracks East" zeigt die bittere Realität des Krieges, die schon lange auch in den sozialen Medien angekommen ist. Russische Blogger verbreiten die Propaganda des Kremls, Soldaten zeigen den Kriegsalltag auf Tiktok. Die ukrainische Sängerin Jerry Heil tritt auf ihren Social-Media-Kanälen mit der ESC-Gewinnerband Kalush auf und hat vor kurzem einen Song namens „Putin go home" veröffentlicht. Unfreiwillig sei sie zur Warfluencerin geworden, auch wenn sie sich selbst eher als Peacefluencerin sehe. Doch solche Feinheiten spielen im Krieg keine Rolle.

Auch die Mitarbeiter russischer Staatsmedien werden zu „Beeinflussern" - mal mehr, mal weniger freiwillig. Das im März erlassene Fake-News-Strafgesetz verbietet es, Un­wahrheiten über das russische Militär zu verbreiten. Seither ist es für die russische Regierung ein Leichtes, oppositionelle Stimmen zum Schweigen zu bringen. Sender werden gesperrt, Journalisten flüchten ins Ausland.

Masha Borzunova vom oppositionellen Fernsehsender Doschd arbeitet mittlerweile aus dem Exil. Die Modera­torin der Sendung „Fake News" hat jahrelang russische Desinformation analysiert, bis Doschd gesperrt und sie selbst als „ausländische Agentin" eingestuft wurde. Pa­rallel zu den zehn Folgen von „Tracks East" wird „Fake News" nun erstmalig als englischsprachige Ausgabe auf Youtube veröffentlicht. Die erste Ausgabe zeigt Schockierendes. Die Propaganda des Kremls ist an bizarren Behauptungen nicht zu übertreffen. In der Nachrichtensendung des TV-Kanals Rossija 1 droht Moderator Dmitri Kisseljow Großbritannien mit Atomwaffen. Die britischen In­seln seien so klein, dass eine einzige Rakete sie im Meer versenken könne. Und weiter: Russland sei das einzige Land, dem es gelänge, die USA in radioaktiven Staub zu verwandeln . Eine seit Jahren verbreitete Lüge besagt außerdem, dass die USA in postsowjetischen Ländern Labore unterhielten, um Biowaffen zu entwickeln. In einem Labor in Georgien würden Insekten ge­züchtet, um Russen mit Malaria zu infizieren. Und die Impfung gegen das Coronavirus enthalte einen Chip mit einem Turn-off-Button, der das Leben der ge­impften Person auf Knopfdruck beenden könne. Dahinter stecke - selbstverständlich - Bill Gates.

Diese haarsträubenden Behauptungen kennt man in Deutschland als Verschwörungserzählungen aus der Querdenkerszene. In Russland werden sie vom staatlichen Fernsehen verbreitet. „Fake News" vermittelt in aller Deutlichkeit, wie Putin seinen Informationskrieg vorantreibt, und zeigt Fernsehausschnitte aus Russland, mit denen die westeuropä­ischen Zuschauer von der heimischen Me­dienberichterstattung kaum in ihrer Gänze konfrontiert werden. In ihrer Direktheit schockieren die Inhalte, rütteln auf. Und genau das will Masha Borzunova erreichen. Auf die Frage, wie sie sich schütze, wenn die russische Regierung auf ihre Kooperation mit Arte aufmerksam werde, kann sie nur müde lächeln: „Selbst, wenn sie davon er­fahren. Sei's drum. Ich muss einfach weiterarbeiten."

Die Bandbreite der restlichen „Tracks-East"-Folgen reicht vom Leben im Exil über eine in Europa neu auflebende Solidarität bis hin zum imperialen Erbe der Sowjetunion. Auch aus Mariupol geflüchtete Ukrainer, die sich in Berlin niedergelassen haben, werden porträtiert. An Aktualität ist „Tracks East" wohl kaum zu übertreffen. In einer Kooperation mit der Deutschen Welle wird die Doku-Serie auch in russischer Fassung veröffentlicht werden und ein Stück weit zur Wahrheitsfindung beitragen. So die ukrainische Sängerin Jerry Heil: „Die Wahrheit ist eine Nadel. Die Lüge ist eine Seifenblase." Mit der neuen Doku-Serie könnte es Arte gelingen, diese - zumindest in einigen Köpfen - zum Platzen zu bringen.

Die erste Folge der Doku-Serie Tracks East ist seit dem 3. Juni in der Mediathek verfügbar und läuft am 7. Juni um 22.55 Uhr bei Arte. Die Sendung Fake News mit Masha Borzunova startet am 9. Juni auf Youtube. Original