Berlin. Wenn er noch einmal gefragt würde, ob er wie 1989 Vorsitzender der PDS werden wolle, würde er heute Nein sagen, erklärt Gregor Gysi - es gab zu viel Hass und Verleumdungen. Im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) erklärt Gysi die Haltung der Linken zu aktuellen Fragen, auch zu der, ob die Partei mitregieren sollte
Trotz Diesel-Skandal und Bundeswehr-Krise profitiert die Linke nicht in der Wählergunst. Woran liegt das?
Der Wahlkampf beginnt erst und die Zeit ist sehr schnelllebig. Früher wusste man Monate im Voraus, wie Wahlen ausgehen. Heute kann sich das in der letzten Woche noch ändern, weil die Bindungen der Wählerinnen und Wähler an Parteien deutlich abgenommen haben. Aber es gibt in unserer Gesellschaft auch ein Stabilitätsdenken. Davon profitiert die Bundeskanzlerin.
Sie würden von mehr Verdrossenheit in der Gesellschaft profitieren?
Zumindest von Verdrossenheit verbunden mit dem Wunsch nach Veränderung. Wenn die Menschen sagen: So kann es einfach nicht weitergehen, dann profitiert die Linke. Unsere Aufgabe ist es, zu sagen, was so störend an unseren Verhältnissen ist und wie man sie verbessern kann.
Wollen Sie denn regieren?
Natürlich will die Linke regieren. Wir sollten SPD und Grünen ein klares Angebot machen. Wenn man in Koalitionsverhandlungen nichts Wesentliches erreicht, darf man das Ganze nicht machen. Aber wenn lauter Schritte in die richtige Richtung vereinbart werden, die nur kürzer sind, als wir uns das vorgestellt haben, dann ist das ein tragfähiger Kompromiss. An uns sollte es nicht scheitern.
Ihre Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht hat nach dem ungeklärten Tod der zwei Soldaten in Mali den sofortigen Abzug der Bundeswehr gefordert. Erwarten Sie von der SPD, dass sie nach solchen Worten mit der Linken koaliert?
Wir haben von Anfang an gesagt, dass der Einsatz falsch ist. Da geht es um eine Kernfrage: Sind wir ein Vermittler bei Konflikten oder Kriegspartei? Wenn sich meine Partei an der Regierung beteiligte, wäre es undenkbar, dass Deutschland bei einem neuen Krieg mitmachte. Neue Kampfeinsätze mit uns darf es nicht geben.
Mali ist ein UN-Einsatz, eine Friedensmission.
Ich weiß, dass das ein UN-Einsatz ist. Aber es gibt über 190 Mitglieder der UN und nicht alle stehen dort. Auch wenn die UN einen Beschluss fasst, kann man überlegen, was unser Beitrag sein sollte.
Können Sie sich vorstellen, dass sich die Bundeswehr überhaupt an Auslandseinsätzen beteiligt?
Neue Einsätze wird es nicht geben. Wir müssen eine andere Rolle finden. Könnten wir nicht zum Vermittler werden? Zwischen Israel und Palästina, oder in Syrien? Auch als Nato-Mitglied kann man doch als Vermittler fungieren. Ein Kompromiss mit der SPD könnte sein, nicht sofort alle Bundeswehr-Soldaten aus dem Ausland abzuziehen. Es ist mir klar, dass wir nicht sofort jeden Soldaten aus dem Kosovo oder Libanon zurückbekommen, auch wenn wir das für richtig halten. Aber wir müssen Wege finden, aufeinander zugehen, verhandeln. Dann finden wir auch eine gemeinsame Lösung zum schrittweisen vollständigen Abzug.
Beim Flüchtlingsthema fürchten viele Bürger eine Überforderung durch zu viele Zuwanderer. Können Sie die Sorgen verstehen?
Ich verstehe sie, teile sie aber nicht. Ich weiß, welche Sorgen es im Osten gibt. Wir waren die Verlierer der deutschen Geschichte, wir wurden und werden nach der Einheit als Deutsche zweiter Klasse behandelt. Wir haben soziale Verwerfungen erlebt, wie sie glücklicherweise die Menschen in den alten Bundesländern nie erleben mussten. Dadurch sind die Ängste doppelt so groß. Aber es gibt nur einen Weg, die Flüchtlingszahlen wirksam zu reduzieren: Das ist die Bekämpfung von Fluchtursachen. Dieses ganze Gequatsche von Obergrenzen und Mauern kann ich nicht mehr hören.
Hat die AfD der Linken die Wähler weggenommen?
Nein. Es wählen Besserverdienende, aber auch sozial Ausgegrenzte die AfD. Letztere haben uns vielleicht früher mal gewählt, dann wurden sie aber zu Nichtwählern. Sie merken jetzt, dass sich von Seehofer bis Gysi alle am meisten über die Wahl der AfD ärgern. Wenn man selbst ausgegrenzt ist, kann das eine Genugtuung sein. Wenn wir einen sozialen Schub im Land erreichten, nähmen wir der AfD den Boden.
Hat die Linke Fehler gemacht?
Die Linke hat in ihrer Geschichte so viele Fehler gemacht, da brauchen wir die nächsten acht Stunden (lacht). Wir dürfen die Mitte der Gesellschaft nicht vergessen. Das ist uns nicht immer gelungen. Wir müssen auch wieder die Partei der deutschen Einheit werden. Die Benachteiligung des Ostens ist gravierender, als viele denken. In tarifgebundenen und den überwiegend anderen Unternehmen wird bei niedrigerem Lohn länger gearbeitet, fast zwei Wochen im Jahr. Das ist nicht hinnehmbar. Wir waren da in den vergangenen Jahren nicht mehr kämpferisch genug. Die Linke muss ohne Wenn und Aber auch für die Gleichstellung zwischen Ost und West kämpfen.
Muss die Linke sich vom Image der Protestpartei lösen?
Nein. Protest gehört zur Gesellschaft. Die Linke leidet darunter, dass sie nicht mehr diesen Ruf hat. Wenn du in der Regierung in Brandenburg und Berlin bist und den Ministerpräsidenten in Thüringen stellst, dann wist du nicht mehr als Protestpartei wahrgenommen.
Gibt es etwas, das sie politisch bereuen?
Na klar, ne Menge.
Was denn?
Wenn man mir nochmal die Frage vom Dezember '89 stellte, ob ich Vorsitzender der Partei werden will, sagte ich nein.
Warum?
Ich habe zu viel durchgemacht. Wenn ich gewusst hätte, was alles auf mich zukommt, hätte ich es nicht gemacht. Aber es war auch eine bereichernde Zeit. Ich habe mit Fidel Castro gesprochen, mit Nelson Mandela, mit François Mitterrand und Helmut Kohl, aber auch mit vielen Menschen ohne Rang und Namen.
Was genau haben Sie durchgemacht?
Hass, Verleumdungen, Beleidigungen, mit Kot beschmierte Türen...
Sie sind bei der Bundestagswahl nicht mehr über die Liste abgesichert. Was löst das für ein Gefühl aus?
Ein relativ angenehmes. Ich bin in der Fraktion gerade wieder eher etwas beliebt. Viele Mitglieder möchten, dass ich in ihren Wahlkreis komme. Ich sage: Leute, Leute, ich bin nicht mehr der Spitzenkandidat. Ich bin viel in meinem Wahlkreis, aber auch im Osten, in München usw. unterwegs. Mancher sagt, der Gysi will ohne Listenkandidatur unabhängiger werden. Ein bisschen was ist dran.
Von Valerie Höhne / RND