"Was mich betrifft, gibt es keinen Grund ‘68 zu feiern. Ich bin nicht beeindruckt von euren Sit-ins in Kantinen, von euren gehaltenen Reden. Und ja, ‘68 war ein wichtiges Jahr, aber nur, weil es euer Jahr war und auch euer Jahr blieb. Sonst blieb nichts davon übrig.“ Das sind die Worte von Mac. Mac ist der Schwiegersohn des kroatischen Filmemachers Nenad Puhovski. Die jüngeren Familienmitglieder sticheln den Filmemacher und seinen Glauben an die ‘68er Bewegung immer wieder. Zeit, seine Gefühle für die Bewegung der 1968er, filmisch zu verarbeiten, seine alten Freund*innen, die allesamt zum Kern der linken Studierendenproteste zählten, zu besuchen und sich gemeinsam zu erinnern. Puhovski im Gespräch über große Gefühle, die Rolle Titos in der Bewegung, über die Transformation vom Sozialismus zum Kapitalismus und über das Scheitern heutiger Proteste.
In Ihrem Film „Generacija ‘68“ („Generation ‘68“) sieht man
bereits einen Teil der Entstehungsgeschichte des Films. Sie waren selber
ein Teil der Studierendenproteste und stoßen heute teilweise auf
Unverständnis vonseiten der jungen Generation. Wieso wollten sie
ausgerechnet einen Film über diese Generation machen?
Ich vergleiche die Bewegung 1968 gerne mit der ersten große Liebe. Wenn
du das erste Mal verliebt bist, glaubst du, dass es ewig so sein wird.
25 Jahre später triffst du diese große Liebe wieder und sie ist
verheiratet mit jemanden, den du blöd findest, hat drei Kinder und
erkennt dich fast nicht wieder. Du fragst dich, wie du in diese Person
verliebt sein konntest. Dieses Gefühl hatte ich damals auch, es war für
mich, für unsere Generation, die erste Liebe, die man nicht vergisst.
Heute sind die Proteste der 68er, insbesondere im ehemaligen
Jugoslawien, fast vergessen. Wenn ich mit meinen Kindern und
Enkelkindern rede, wird mir klar, dass sie die Bewegung von damals nicht
verstehen. Daher wollte ich meinen Kindern und dieser Generation
erzählen, dass es für uns etwas sehr Wichtiges war. Es war eine Art von
Erotik in Bezug auf die „Revolution“, in Bezug auf das Ändern der Welt.
Denn es war nichts weniger als der Versuch, die Welt zu verändern, auch
wenn wir nicht erfolgreich waren.
Sie
adressieren die junge Generation direkt und fragen, was heute von 1968
übrig ist. Oft lautet die Antwort „Nichts“. Gleichzeitig vergleichen Sie
die damalige Bewegung mit heutigen Protesten wie der „Occupy“-Bewegung.
Welche Parallelen können gezogen werden, welche nicht?
Es gibt heute nur wenige Bewegungen, die so global orientiert sind wie
die 68er – „Occupy“ ist eine davon. Wir haben daran geglaubt, dass wir
nichts auf lokaler Ebene ändern können, wenn wir nicht das System
verändern. Die Generation meiner Kinder glaubt an kleine Schritte, an
die Veränderung einzelner Ebenen. Natürlich unterstütze ich
Demonstrationen für die Rechte Homosexueller, aber ich glaube nicht,
dass sich dadurch etwas substantiell ändern kann. Und wenn mich heute
die Menschen fragen, was der 68er Bewegung passiert ist, gibt es für
mich nur eine Antwort: Kapitalismus. Und diesen Fakt konnten wir nicht
ignorieren. Wir konnten nicht sagen, dass gegen den Kapitalismus
anzukämpfen ein zu großer Kampf ist. Das System im Großen zu verändern
war es, an das wir glaubten. Das war es, was wir machen wollten und das
war es, an dem wir scheiterten. Und dennoch, glauben wir immer noch,
dass es möglich ist.
Kapitalismus und Sozialismus werden in Ihrem Film auf
verschiedene Arten thematisiert: Eine der Protagonist*innen sagt, dass
sie solidarisch mit den Revolutionär*innen im Westen ist, aber eine
Revolution in einem sozialen Regime keinen Sinn mache. Eine andere
Person meinte, dass es eine linke Bewegung braucht, weil der Sozialismus
nicht radikal genug war. Können Sie diese Beziehung zwischen der
68er-Bewegung und dem sozialistischen Regime kommentieren?
In unserer Meinung näherte sich der Sozialismus zu sehr an den
Kapitalismus an. Unsere Botschaft war, wir wollen keinen Kapitalismus,
wie wollen Sozialismus – aber „Sozialismus mit einem menschlichen
Gesicht“, wie wir es nannten. Die ersten kapitalistischen Züge sahen wir
an unseren Eltern, gegen die wir rebellierten. Unsere Eltern hatten
noch all die Narben aus dem zweiten Weltkrieg und sagten sich danach
„Fuck it! Wir wollen ein Leben haben, wir wollen ein Haus, ein Auto.“
Und dann kamen wir Kinder und erinnerten sie daran, gegen was sie
kämpften und fragten, wieso sie jetzt all diese Konsumgüter haben
müssen. Damals verstanden wir nicht, dass es manchmal einfach um das
Vergessen ging. Für uns war es ein Zeichen, dass es in Richtung
Kapitalismus ging. Es wurde wichtiger, ein Sommerhaus zu besitzen als
das Geld umzuverteilen.
Trotz dieser Kritik am damaligen Sozialismus gab es eine Art
„Unterstützung“ vonseiten des damaligen jugoslawischen Präsidenten
Titos.
Tito war ein großartiger Politiker, weil er ein großartiger Manipulator
war. Das einzige Ziel von Politik ist Machterhalt. Darin war er sehr gut
und zwar nicht in erster Linie durch Unterdrückung, die es natürlich
auch gab. Aber er wusste, wen er unterstützen musste, um im Gegenzug
auch Unterstützung zu erhalten. Dazu kam, dass er Charme hatte. War er
ein Demokrat? Nein. War er ein Diktator? Jein. Aber trotzdem, die Leute
liebten ihn.
Diese Art Unterstützung gab es auch nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die damalige Tschechoslowakei. Die linke Bewegung
– so auch Sie – befand sich zu dieser Zeit in der „Sommerschule“ der
Philosophie auf der Insel Korčula, die von der marxistischen
„Praxis-Gruppe“ veranstaltet wurde. Auch Intellektuelle wie Herbert
Marcuse oder Ernst Bloch waren da. Wie haben sie diesen Moment – als sie
vom Einmarsch erfuhren – erlebt?
Wir wussten sofort, dass es das Ende war. Die damaligen wichtigsten
Intellektuellen aus aller Welt waren hier. Innerhalb einer halben Stunde
verfassten wir ein Statement um zu sagen, dass wir dagegen
protestieren. Der Einmarsch war nicht nur gegen die Tschechoslowakei
gerichtet, sondern eine Nachricht an uns alle. Sie wollten sagen, passt
auf, was ihr macht. Und es gab eine Art „Semi-Unterstützung“ von Tito,
weil er wusste, dass er unsere Unterstützung im Notfall braucht. Sollte
die Rote Armee an die jugoslawische Grenze kommen, braucht er junge
Leute, die sofort für Jugoslawien kämpfen würden. Die jugoslawische
Armee alleine hätte das nicht geschafft. Ein weiterer Grund, wieso er
die Studierendenproteste nicht zerschlug, war meiner Meinung nach, dass
wir auch eine Art Erbe darstellten. Vielleicht kann ich nach dieser
Aussage nicht wieder zurück nach Kroatien fahren (lacht), aber ich
glaube Tito war damals schon bewusst, dass es eine große
Wahrscheinlichkeit für den Zerfall Jugoslawiens nach seinem Tod gibt.
Stattdessen kam – wie Sie bereits damals geahnt haben – der Kapitalismus.
Ja, und es gibt heute noch viele Menschen, die sagen, dass wir zwar
nicht so viel Freiheit im Sozialismus hatten, dafür Sicherheit, bessere
Schulen, ein besseres Gesundheitssystem. Was der Preis wofür ist, ist
eine andere Diskussion. Aber es stimmt, dass die Industrie der
ehemaligen ex-jugoslawischen Staaten zerstört wurde, zu einem großen
Teil auch das Bildungssystem, teilweise das Gesundheitssystem. Und es
gibt sehr viel Korruption. In den 1990ern gab es in Kroatien ein großes
Referendum, in welchem die Menschen gefragt wurden, ob sie ein
unabhängiges Kroatien wollen. Die meisten sagten ja. Aber es gab keine
zweite Frage. Nämlich die Frage, ob die Menschen Kapitalismus haben
wollen. Es gab kein Referendum darüber, ob das sozialistische System
geändert werden soll. Viele der Menschen wussten nicht, dass mit dieser
Form der Unabhängigkeit auch die Transformation in ein kapitalistisches
System einherging. Und ja, es gibt Demokratie, aber heute ist die
Vorstellung davon, was Demokratie ist, sehr vereinfacht: Es gibt freie
Wahlen und das ist es.
Wie würden Sie dann die Frage, was von den 68ern übrigblieb, selbst beantworten?
Es war ein Traum, den wir lebten. Ein Traum, den wir liebten. Ein Traum,
aus dem wir aufwachten. Und wir sind immer noch Traumwandler und werden
es bis zu unserem Tod sein. Dessen sind wir uns bewusst. Um zurück zur
ersten große Liebe zu kommen: Oft ist es so, dass du dein eigenes Gefühl
verliebt zu sein, mehr magst als die Person. Zyniker*innen würden
sagen, dass du dein eigenes, dein verliebtes Ich, liebst. Aber das ist
ein Teil der Liebe. Diese Liebe, diese Freude war es, die unsere Köpfe
bewegte und die ich mit diesem Film weiterreichen will.
Zur Person: Nenad Puhovski studierte Soziologie, Psychologie sowie Filmregie. Als Regisseur arbeitete er an mehr als 250 Theater-, Film- und Fernsehproduktionen. Seine Dokumentarfilme fokussieren meist gesellschaftspolitische Themen. Zudem ist er Gründer sowie Direktor von „ZagrebDox“, dem größten Dokumentar-Filmfestival in der Region und leitet als Professor ein MA-Programm zu Regie und Produktion im Dokumentarfilm-Bereich.
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