Thomas Tuchel hat während seiner Zeit als Trainer beim FSV Mainz 05 in der Bundesliga 1,45 Punkte im Schnitt geholt. Titel hat er bislang nicht errungen. Ist der Hype um ihn überhaupt gerechtfertigt?
Absolut. Gemessen an den Möglichkeiten, die Tuchel in Mainz hatte, hat er Bemerkenswertes geleistet. Es gibt schließlich eine ganze Reihe von Faktoren, die die Punktzahl beeinflussen: unter anderem die Infrastruktur eines Klubs oder Budgets für Gehälter und Transfers. Man kann einen Trainer also nicht nur nach Punkten und Tabellenstand bewerten, sondern vielmehr danach, wie er Spieler individuell und Mannschaften generell weiterentwickelt. Tuchel hat das bei zahlreichen Spielern geschafft: André Schürrle, Lewis Holtby, Adam Szalai, Nicolai Müller, Jan Kirchhoff, um nur mal einige zu nennen. Daran arbeitet er ganz akribisch und ist daher ein Vorreiter seiner Zunft.
Inwiefern?Wir schwärmen heute von der taktischen Variabilität des FC Bayern. Tuchel hat bereits drei verschiedene Systeme innerhalb einer Partie spielen lassen, als Pep Guardiola noch in Barcelona war. Dazu hat er für seine ausgefeilten Matchpläne erkannt: Für verschiedene Gegner brauche ich verschiedene Spielertypen, was plötzlich das Potenzial des gesamten Kaders viel effektiver ausschöpfte. Tuchel hat innovative Prozesse eingeleitet, die der damaligen Zeit voraus waren.
Sind Josep Guardiola und Tuchel vergleichbar?Bei beiden stehen gruppen- und mannschaftstaktische Prozesse im Mittelpunkt. Guardiola und Tuchel sind Fußball-Entwickler. Sie sind in der Lage vorauszusehen, wohin sich der Fußball entwickelt. Sie lassen im besten Falle Fußball spielen, der in einem halben Jahr von anderen kopiert wird. Es verändern sich gerade viele Nuancen im Fußball, einige Trainer hängen da hinterher, andere sind on time und wenige wie Tuchel oder Guardiola antizipieren, wie sich das Spiel entwickeln könnte und haben das besondere Talent, den Fußball immer wieder neu zu erfinden. Diese Kreativität und Lust am Neuerfinden des Fußballs, die beide auszeichnet, sind ein unfassbarer Mehrwert für einen Verein.
Weshalb ist es denn im Fußball so schwierig, taktisch variabel mit mehreren Systemen während eines Spiels zu agieren oder das System auf den Gegner zuzuschneiden?Wenn man im Leistungssport etwas im Wettkampf ausprobiert, sollte man es intensiv geübt haben und nahezu fehlerfrei beherrschen. Zum Vergleich: Eine Kunstturnerin turnt ihre Übung mehr als 1000 Mal, bevor sie die im Wettkampf zeigt. So ist das auch im Fußball. Um während eines Bundesligaspiels zwischen mehreren Systemen umstellen zu können, bedarf es enormer Vorbereitungszeit und zahlreicher Wiederholungen in jeder Trainingseinheit. Ein taktisch denkender Trainer eignet seinen Spielern dieses Know-how an und gibt ihnen das Selbstbewusstsein, das auch im Spiel umzusetzen. Früher ließen die Trainer ihre Spieler Gras fressen, die modernen Trainer lassen die Köpfe rauchen.
Ist es eine grundlegende Einstellungsfrage eines Trainers, sich nicht auf ein System zu beschränken, sondern sich nach dem Gegner zu orientieren und zu variieren?Natürlich soll jedes Team seine Stärken bei der Spielplanung in den Vordergrund stellen. Aber ausschließlich zu versuchen, ein dominantes System zu verfolgen, geht heute nicht mehr. Mit dieser Ein-System-Strategie hat Boris Becker vielleicht früher Wimbledon gewonnen. Heute ist das in keiner Spielsportart mehr zeitgemäß. Dazu sind die Spielanalysten zu gut, die jeden Gegner genau durchleuchten und das eigene Team sehr präzise auf die Stärken und Schwächen einstellen. Dazu gilt es, kurzfristig während des Spiels auf bestimmte Situationen zu reagieren. Fußball wird immer komplexer, hohe Flexibilität à la Tuchel ist das Maß aller Dinge.
Was ist Tuchel für ein Trainertyp im Umgang mit seinen Spielern? Ersatzspieler wie Heinz Müller haben sich bitterböse über Tuchels Stil beschwert.Zu dem konkreten Fall kann ich nichts sagen. Generell hat mir Tuchels Verständnis von Ersatzspielern immer imponiert. Da er keine feste Stammformation hatte, sondern seinen Kader je nach Gegner nominierte, nahm er einen viel größeren Teil des Kaders in die Verantwortung und ins Boot. Für Spieler gibt es aus psychologischer Sicht nichts Schlimmeres, als am Wochenende frei zu haben und wieder nicht im Aufgebot zu stehen. Tuchel verteilte diese Rollen durch seine gegnerspezifischen Umstellungen so geschickt, dass wenige das Gefühl hatten, nicht gebraucht zu werden.
Von außen gewann man den Eindruck, dass Tuchel ein sehr enges Abhängigkeitsverhältnis zu seinen Spielern schafft.Tuchel weiß, wie man ein Team führt. Es geht um flache Hierarchien, Aufgabenverteilung und darum eine Kohäsion zu entwickeln, ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das bewirkt, dass man die gemeinsam gesetzten Ziele mit aller Macht verfolgt und die Einzelinteressen zurücksteckt.
Wie erklären Sie sich Tuchels Motivationslage, dass er eine Herausforderung wie die beim HSV sucht, aber gleichzeitig erklärt, nicht in der 2. Liga arbeiten zu wollen?Das ist schwer erklärbar. Der HSV hat sich in den vergangenen Jahren einen Ruf erarbeitet, der es jedem Trainer sehr schwer macht, nach Hamburg zu gehen. Einzig sinnvoll scheint mir die Strategie nach dem Motto: Je weiter man vom Ziel entfernt ist, desto größer können die Fortschritte sein. Ergo: Der HSV könnte tiefer kaum fallen und Tuchel sucht die Chance, sich mit kluger Aufbauarbeit unsterblich machen. Vielleicht sieht er bei einem solchen Klub mehr Potenzial, etwas zu verändern und den Verein zu prägen. Das ist durchaus ambivalent.
Sein mediales Abtauchen befeuert seine mediale Präsenz. Nachvollziehbar?Natürlich ist Tuchel derzeit der Schattenmann, aber diese Strategie finde ich klar nachvollziehbar. Er hat sich zunächst rar gemacht, ist komplett untergetaucht. Aktuell, da er wieder einsteigen will, klopft er seinen Marktwert ab. Für Tuchel persönlich sind Spielereien wie die Veröffentlichung seines potenziellen Gehalts in Hamburg nicht schädlich, da die Konkurrenz so weiß, woran sie ist. Tuchel selbst hat Zeit, kann abwarten und sich in Ruhe unter verschiedenen Optionen entscheiden.
Finden Sie es verständlich, dass Tuchel RB Leipzig mit der Begründung abgesagt hat, nicht in der 2. Liga arbeiten zu wollen?Das ist zweischneidig. Tuchel weiß einerseits, dass RB Leipzig in einigen Jahren unter den besten Sieben in Deutschland sein wird. Andererseits hat er in diesem Jahr gesehen, wie schwer es trotz eines Top-Kaders ist, in die Bundesliga aufzusteigen. Dazu kommt: Wer einen solchen Marktwert hat und Bundesliga-Fußball spielen lassen kann, will auch dort agieren, wo man am meisten gesehen wird. Insofern finde ich es nachvollziehbar.
Wie schnell kann Tuchel seine variablen Systeme bei einem neuen Klub überhaupt umsetzen?Das ist ganz unterschiedlich. In Leipzig hätte er auf Spieler zurückgreifen können, die seine Idee vom Fußball bereits verinnerlicht haben. Da wäre das sehr schnell gegangen. Bei anderen Vereinen wird das anders sein. Da wird es Tuchel kaum schaffen, innerhalb einer Sommer-Vorbereitung seine Philosophie komplett zu übertragen. Taktik wird in seiner Vorbereitung zwar über allem stehen, da wird es viel mehr taktische Einheiten geben als bei anderen Bundesligatrainern. Aber die Hinrunde wird er sicher noch brauchen, um eine taktische Basis nach seiner Idee herzustellen.
Halten Sie es für wahrscheinlich, dass Tuchel bei einem Klub scheitert, der ihm nicht den Komfort bieten kann wie Mainz?Natürlich. Es gibt wie eingangs gesagt viele Faktoren, die das beeinflussen. Darüber hinaus belegen sportwissenschaftliche Studien, dass im Fußball der Zufallsfaktor für den Torerfolg bei etwa 40 Prozent liegt. Daran kann auch Tuchel nicht rütteln. Deswegen will er ja eine möglichst perfekte Wahl für sich und seinen neuen Klub treffen, um die verbleibenden 60 Prozent mit der eigenen Qualität so maßgeblich zu beeinflussen, dass er öfter gewinnt, als verliert und er mit seinem nächsten Verein vielleicht mehr als 1,45 Punkte im Schnitt holt. Und vielleicht den ersten Titel.
Mit Daniel Memmert sprach Ullrich KroemerQuelle: n-tv.de