Die Weidengasse ist ein Schmelztiegel der Kulturen, in dem aber nicht alles verschmilzt: Manche leben Jahrzehnte lang freundlich nebeneinander her - wie die 83-jährige Verkäuferin Paula Filz und die Männer vom türkischen Café.
Von Uli Kreikebaum (Text)
und Michael Bause (Bilder)
Paula Filz und Mecit Besiroglu legen Wert auf ihre Gewohnheiten. Die 83-jährige Filz steht jeden Morgen ab 9 Uhr im Haushaltswarengeschäft Balke in der Weidengasse 81. „Der Laden ist mein Hobby", sagt sie. Boxtrainer Besiroglu (66) begibt sich jeden Morgen ins Café Beyoglu, Weidengasse 81, um Tee zu trinken und mit Männern über Politik zu reden.
„Man kennt sich vom Sehen und grüßt sich", sagt Filz, die in der 81 aufgewachsen ist und seit 1973 den Laden führt. „Die alte Dame ist die Königin im Veedel, jeder verehrt sie", sagt Besiroglu, der seit 45 Jahren in der Nachbarschaft wohnt, beim morgendlichen Tee. „Die Frau ist der Hammer." Eine Wand weiter wartet die Hammerfrau Zeitung lesend auf Kunden. „Als ich das erste Mal drüben im Café war, war ich erschrocken, dass da nur Männer sitzen", sagt sie. „Die sind aber alle nett."
Auf 50 Metern Weidengasse ist die halbe Welt zu finden: Es gibt käuflichen Sex und betende Muslime; der Juwelier bietet neben dem Lohnsteuerselbsthilfe-Verein seinen Schmuck an. Dönerladen trifft auf Bestattungsinstitut, ein Ladenlokal, in dem es ausschließlich Zitronen und Zitronenprodukte gibt, befindet sich in Nachbarschaft zu einem Billigsortimenter, der fast alles verkauft.
Ein Mercedes, besetzt von einem Koloss mit Gel-Klischee-Frisur, stoppt, um mit einer Frau im rosa Minikleid zu sprechen. Vor dem türkischen Imbiss riecht es schon am Morgen nach gegrillten Köfte, unter der Bahnunterführung, die Obdachlosen als Schlafstätte dient, stinkt es nach Urin. Gegenüber des Juweliers ist kurz nach Sonnenaufgang ein alter Mann mit goldenem Gebiss aus einem Lieferwagen gestiegen. Er bleibt bis abends vor dem Haus von Paula Filz und bettelt, dann holt ihn der Lieferwagen wieder ab. „Das sind rumänische und bulgarische Bettlerbanden", sagt Mecit Besiroglu kopfschüttelnd.
Wenn es eine Parallelwelt in der Parallelwelt gibt, dann in der Weidengasse 81 und 83. Paula Filz verkauft Einmachgläser und Vasen, Staubsaugerbeutel, rostende Küchenmesser, Gießkannen und Plastikkrähen, „alles, was die Leute haben wollen". Die zierliche Frau mit der Goldrandbrille hat eine Menge Fans, ihr Geschäft ist trotzdem ein Anachronismus, weil die meisten im Internet oder im Großhandel oder gar nicht mehr kaufen, was sie anbietet.
Frau Filz hat die Zeit erlebt, als die Straßenbahn noch durch die Weidengasse fuhr. Sie hat gesehen, wie die Huren aufgereiht wie an einer Perlenkette ihre Dienste anboten. Sie hat die ersten Italiener begrüßt, die als Gastarbeiter kamen und Pizzerien eröffneten, wie die Türken, die es schwerer hatten. „Weil viele von uns einfache Bauern waren, die die Sprache nicht gelernt haben. Die erste Generation von uns ist bis heute nicht richtig angekommen", sagt Mecit Besiroglu und deutet ins Innere des Cafés. Bei ihm, dessen zerknautschte Nase erzählt, dass er als Boxer nach Köln kam, ist das anders. Er lernte Deutsch. Er mischte sich unter die Leute. Längst hat er einen eigenen Boxclub, 50 Meter weiter am Hansaring, Russe, Türke, Araber, Deutscher, egal. „Das Sportstudio ist meine Moschee", sagt Besiroglu, „wir glauben alle, dass es gut ist, zusammen Sport zu machen. Und nicht an das, was die Verbrecher wie mein Freund hier glauben."
Besiroglu kneift einem sorgfältig gekleideten Herrn mit Schnurrbart in die Wange. Es ist Serafettin Özkan, Mitgründer von Millî Görüsş Köln, der islamischen Bewegung, die viele Moscheen betreibt. Auch Özkan kommt jeden Morgen auf einen Kaffee ins Beyoglu. Er ist Anhänger des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan. Besiroglu hält Erdogan - und Özkan - für „gefährliche Leute. Ich könnte ihn natürlich weghauen, einen auf die Leber und weg, aber wir streiten lieber". Özkan lächelt. Mit vielen im Café unterhalte er sich nicht, „weil sie die Worte nicht als Waffe gebrauchen können. Sie kommen, weil sie sich nur hier zu Hause fühlen. Sie sind einsam. Im Zentrum von Istanbul gibt es solche türkischen Männercafés seit 20, 30 Jahren nicht mehr".
Besiroglu sagt: „Die Hälfte der Leute hier schweigt über Politik, weil sie Angst hat vor Spionen." Er selbst lasse sich das Maul nicht verbieten, er sage öffentlich, dass er „Erdogan für einen Diktator" halte. Er sei deswegen im vergangenen Jahr bei der Einreise in die Türkei in einen Raum gebeten und gefragt worden: „Warum schimpfst du über unseren Ministerpräsidenten?" Özkan lächelt leise, wenn Besiroglu redet. Besiroglu ärgert sich laut fluchend über die Ansichten seines verhassten Freunds Özkan.
Paula Filz ärgert sich leise über die Männer aus dem Café Beyoglu, die manchmal vor ihrem Schaufenster stehen und rauchen. „Das hält die Kundschaft ab", sagt sie. „Da hat sie Recht", sagt Besiroglu. Nett findet Filz den weißhaarigen Osman Turan, den Kellner des Cafés, der täglich die Zigarettenkippen seiner Gäste wegfegt - auch die vor Filzens Ladentür. „Er nimmt auch öfter Pakete für mich an, er ist sehr zuvorkommend", sagt die 83-Jährige. Ein Kunde kommt und kauft ein Schälmesser: „Sie müssen auch bei ihr kaufen! Alle müssen bei ihr kaufen!", ruft er im Rausgehen.
Hinter ihrem Tresen sagt Frau Filz: „ So lange ich täglich hier arbeiten kann, bin ich glücklich." Mecit Besiroglu sitzt nebenan im Café und sagt: „Ich habe sieben Kinder, sieben Enkel, einen Boxclub, jede Menge Schulden, morgens einen Tee und bin glücklich."