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Feature

Ist der Staat schuld an seinem Tod?

Hannes Schopf fährt im März 2020 zum Skifahren nach Ischgl – er hat im Gegensatz zu den Behörden keine Ahnung, dass das Virus im Dorf ist. Wenig später stirbt er an Covid-19. Seine Witwe verklagt daraufhin die Republik Österreich.

Sieglinde Schopf setzt sich so vorsichtig auf den Rand der Grabplatte, als wäre der Stein aus Glas, dann zeichnet sie mit dem Finger das Gesicht auf den schwarzen Granit. "Hier das Kinn", sagt sie, "da die Nase, hier seine Augen." Sie schaut auf. "Sie sehen es doch auch, oder?" 


Es ist das Gesicht ihres Mannes, Hannes Schopf, gestorben am 10. April 2020, mit 72. Seit 71 Wochen liegt er hier. Sie zählt die Tage, sie war Lehrerin für Mathematik, Zahlen sind eindeutig. 48 Ehejahre, und als er im Spital lag und starb, durfte sie ihn nicht besuchen. Also besucht sie ihn hier, jeden Tag. Sie weint, dann erzählt sie ihm, was heute wieder schiefgegangen ist, bittet ihn um Hilfe bei großen und kleinen Entscheidungen, etwa, ob sie mit den Leuten von der Gemeinde wandern gehen soll. Es ist ihr unangenehm, dort allein aufzutauchen, wo alle zu zweit sind.


So gehen die Tage. Abends sitzt sie in ihrem Haus am Waldrand, das groß und leer geworden ist. Sie sagt, eigentlich lebe sie noch so, als würde er abends heimkommen. Ihre Eltern und Großeltern liegen auch in jenem Grab auf dem Dorffriedhof nahe Wien. Der Grabstein steht seit 1964, die alte Rechnung hat sie aufgehoben. Nach Hannes’ Tod hat sie ihn erneuern lassen. Auch diese Rechnung hat sie aufgehoben. 720 Euro für Demontage, Transport und Abschleifen des Steins, 795 Euro für die neue Gravur, 70 Euro für das Porzellanfoto, 3680 Euro für die Grabplatte und, und ... macht am Ende 10.080 Euro. Schnell beisammen.


Sie steht auf und steht lange schweigend da, den Kopf schief gelegt. "Nicht einmal das wollen sie bezahlen", sagt sie leise. Sie weint wieder. "Was sind das bloß für Menschen?" Sie meint die Verantwortlichen in der Finanzprokuratur. Schopf hat sie nie gesehen, nie gesprochen, sie weiß bloß, dass sie in ihre Gegner sind. Die Finanzprokuratur vertritt die Republik Österreich vor Gericht. Sieglinde Schopf hat Österreich verklagt.


Die Behörden haben Anfang März 2020 gewusst, dass das Virus in Ischgl ist. Trotzdem haben sie die Menschen anreisen lassen. Die Gier einiger Wirte, Hoteliers und Seilbahnbetreiber sei schuld, sagt Schopf, dass ihr Mann nicht mehr lebt. Es geht um die Kosten eines Grabsteins, um Schadensersatz, um Schmerzensgeld. Es geht um insgesamt 95.881,77 Euro. Aber eigentlich geht es um viel mehr. Für Sieglinde Schopf geht es darum, wer Schuld hat am Tod ihres Mannes. Für die Republik geht es darum, ob sie verantwortlich ist für die Toten der Pandemie und ob sie für ihre Fehler haften muss. Und es geht um die Frage, was der Staat seinen Bürgern schuldet.


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DIE ZEIT N°6/2022