Der vielleicht perfekte Pandemie-Urlaub: 200 Kilometer entlang der deutsch-polnischen Grenze. Wer auf der Oder paddelt, trifft kaum Menschen, dafür Wasservögel, Adler und Biber. Von Tobias Hausdorf
Platzregen prasselt auf meine brennenden Arme. Es ist der vierte Tag im Kajak, das Etappenziel Mescherin muss kurz vor mir liegen, aber es kommt und kommt nicht. Ich will aufgeben. Halb lasse ich mich treiben, halb mache ich kraftlose Schläge zum Ufer. Unter Erlenzweigen, die in den Fluss ragen, bilde ich mir ein, weniger nass zu werden. Warum mache ich das noch mal?Ich bin auf der Oder, fünf Tage, 200 Kilometer, von Ratzdorf bis Stettin, ich wollte Ruhe und Natur. Beides habe ich bekommen. Jetzt gucke ich unter Erlen in graue Regenschlieren und denke darüber nach, wie ich dagegen leuchten muss in blauer Funktionsjacke und rotem Boot. Stoisch paddle ich weiter, durchnässt bin ich eh. Wie bin ich hier gelandet? Aber von vorn.
Erste Etappe: Ratzdorf - Brieskower See, 34 kmMeine Reise beginnt damit, dass meine Eltern mir helfen, das Kajak zum Ufer zu tragen. Sie deuten auf ein Pegelhäuschen mit digitaler Anzeige. 1,65 Meter zeigt die an. "Das kennt man noch aus dem Fernsehen, vom Oderhochwasser 1997." Da war ich vier, die Bilder kannte ich nicht: Die Marke näherte sich sieben Metern, Bundeskanzler Kohl war zu Besuch und der Deich hielt - an anderen Stellen nicht. 74 Menschen starben.
Unvorstellbar an diesem sonnigen Tag: Die Oder fließt friedlich durch Ratzdorf, wo sie die Neiße als Grenzfluss ablöst. Die Strömung ist ordentlich, ich muss gleichmäßige Schläge machen, um gerade zu fahren - ein Steuerruder habe ich nicht montiert. Das Kajak will sich drehen, ich nicht. Ich brauche einige Kilometer, um mich daran zu gewöhnen.
Kaum losgefahren lerne ich: Die Deutschen strampeln gern auf Rädern. Auf polnischer Seite entspannen Angler. An fast jeder dritten Buhne sitzen sie, an Steindämmen also, die die Strömung in die Mitte drücken, damit sich das Flussbett selbst vertieft. Die Angler werden mich die ganze Woche begleiten, egal, ob es Montagfrüh oder Mittwochabend ist.
Gern würde ich grüßen, weiß aber nicht, ob es "Dobry Dzień" oder "Dzień Dobry" heißt. Dabei bin ich in Berlin und Brandenburg aufgewachsen, habe "eine kleine Schule am Rande Polens" besucht, wie mein Sportlehrer immer gesagt hat - Berlin 20 Minuten, Polen eine gute Stunde entfernt, wohlgemerkt. Zur Schulzeit ging es selbstverständlich zu einem Austausch in die Bretagne und nach Paris. Nach Polen sind wir nie gefahren.
Ich paddle an einem Brückenkopf vorbei, eine von vielen gekappten Verbindungen auf der Strecke. Von Eisenhüttenstadt sehe ich nichts, dafür drei Rehkitze, die mich kaum beachten. Dann das erste Mal Gegenverkehr: Das Frachtschiff "Stepnica" macht ordentlich Wellen. Sonst ist niemand auf dem Fluss. Ich genieße die tiefe Sonne und lasse mich treiben. Stellenweise ist die Oder so flach, dass ich mit dem Paddel aufkomme.
In der Dämmerung baue ich am Brieskower See auf einem Biwakplatz mein Zelt auf, nicht zu nah neben einem dicken, angeknabberten Baum. Kaum im Schlafsack, höre ich ein lautes Platschen. "Shit, mein Boot!" Das aber liegt auf der Böschung fast neben dem Zelt. "Die Biber", beruhige ich mich und falle in den Schlaf. Der ist nur wenig erholsam: Direkt am See führt eine Bahnstrecke entlang.
Zweite Etappe: Brieskower See - Küstrin-Kietz, 40 kmAm Morgen wache ich mit Muskelkater in den Armen auf. Etwas groggy trinke ich einen Kaffee und schaue auf mein klatschnasses Zelt. Ich muss es so taufrisch einpacken, wie es ist, und paddle los. In Frankfurt gönne ich mir auf der Insel Ziegenwerder eine erste Vormittagspause.
Hinter der Stadt sieht die Landschaft aus, als würde ich durchs Auenland paddeln - gespickt mit Vorahnungen von Mordor: Immer wieder stehen tote Bäume am Ufer. Häuser tauchen auf den Hügeln am linken Ufer auf und ein Schriftzug: In Lebus hat jemand die Buchstaben der Stadt wie in den Hollywood-Hills aufgestellt. "Perfekter Mittagsspot", denke ich mir und lasse mein Zelt in der Sonne trocknen. Mit einer Sorge weniger hopse ich wieder ins Boot.
Am Abend, auf dem Zeltplatz bei Fischer Schneider, komme ich mit einem Radfahrer ins Gespräch. Er stamme aus Sachsen und sei auch gestern losgefahren, 200 Kilometer habe er gemacht, in zwei Tagen. Ich muss lachen, das habe ich als Gesamtstrecke vor mir. "Ist eben ein anderes Reisetempo", sage ich. Wir prosten uns zu. Ich überlege noch, die Festung auf polnischer Seite von Küstrin anzuschauen, sitze dann aber lieber auf dem Deich und lausche den Kranichen.
Dritte Etappe: Küstrin-Kietz - Hohensaaten, 48 kmIch starte bei Nebel, selbst die Vögel sind noch ruhig. Rechts mündet die Warthe in die Oder, die an dieser Stelle schnurgerade verläuft, der Fluss erscheint so still und breit vor mir wie ein See. Das Gurgeln der Strudel, die ich mit jedem Paddelschlag mache und das mich jeden Tag begleitet, wirkt beinahe meditativ.
In Groß Neuendorf im Oderbruch kann ich wegen des hohen Ufers nicht anlegen, also raste ich auf der offiziell polnischen Sandbank gegenüber: Gaskocher an, essen, ausruhen. Gegen 13.30 Uhr erreiche ich Stary Bleszyn, ein kleiner Ort, aber bedeutsam: die Hälfte meiner Tour! Bei einer Pause in Zollbrücke, bekannt fürs "Theater am Rand", fülle ich meine Koffein- und Wasservorräte in einem Café auf. An zwei Tischen sitzen Tagestouristen, sonst ist das Dorf an diesem Dienstag wie ausgestorben.
Ich paddle an einer Baumgruppe vorbei, die sich schon von Weitem ankündigt: Hunderte Spatzen machen darin Radau und fliegen in Gruppen zum Baden in die Oder. Sobald ein Rad auf dem Deichweg vorbeikommt, verstummen sie, mich beachten sie nicht. Als ich abends in Hohensaaten ankomme, rollt ein Schäfer auf der Deichwiese einen Zaun zusammen. Ich frage ihn, ob ich hier zelten darf? "Kann ich ja heute beruhigt schlafen, dann kommt der Wolf nicht", sagt er. Die Schafe sind wichtig für die Verdichtung des Deichs, erklärt er noch und überlässt sie meiner Obhut.
Vierte Etappe: Hohensaaten - Mescherin, 53 kmDie längste Etappe steht an, weil ich den Nationalpark Unteres Odertal an einem Tag durchfahren muss, Zelten ist da nicht erlaubt. Dass dies mit der schönste Teil ist, kündigt sich gleich am Morgen an: Ein Seeadler hockt in einem Baum. Als ich näher komme, fliegt er einen weiter. So geht das zweimal, bis es ihm auch zu blöd ist und er im dritten Baum bei einem Artgenossen sitzen bleibt.
Die Strömung wird schwächer, und das Ufer ändert sich: weniger Buhnen, dafür mehr und mehr bewachsene Flächen. Auf deutscher Seite ist ein Vogelbeobachtungsturm, auf polnischer beginnt ein schöner Mischwald auf dem Hochufer. Gebrochen wird die Idylle nur durch weiß-rote und schwarz-rot-gelbe Pfähle auf den Deichen, die Markierungen erinnern an "Age of Empires": mein Reich, dein Reich.
Bei Schwedt bin ich nicht mehr allein: Verkehr, Motorboote - von wegen Ruhe. Dann teilt sich die Oder in Ost- und Weststrom und unzählige verschilfte Kanäle und Polder dazwischen. Ich biege auf die Westoder Richtung Gartz ab. Hier ist es naturbelassen, nur schwinden meine Kräfte. Regen überrascht mich zwei Kilometer vorm Ziel: Nach dem vierten Marathon mit den Armen bin ich nicht mehr in der Lage, die Spritzdecke überzustülpen. Irgendwie schaffe ich es zum Zeltplatz Mescherin und im strömenden Regen das Zelt aufzubauen. Nie habe ich mich so über eine warme Dusche gefreut! Danach esse ich im Restaurant "Altes Zollhaus" und falle zufrieden ins Zelt.
Fünfte Etappe Mescherin - Stettin, 23 kmIch starte erst um zwölf Uhr mittags und stecke wenig Kraft in meine Paddelschläge. Wieso beeilen auf dem kurzen Stück durch Polen? Das Ufer ist hier so schön wie nirgends: Es gibt keine Buhnen und kein Geröll zur Befestigung, nur Schilf, Bäume, Büsche und sogar eine Biberburg. Und dann bricht noch die Sonne durch die Wolken - herrlich. Auf einer Insel in Stettin schaut ein Adler auf mich herunter, und innerlich verabschiede ich mich von der Oder.
Stettin strahlt Industriecharme aus und sieht doch bezaubernd aus vom Wasser. Nah am Hauptbahnhof biege ich rechts in einen Kanal ab und steige aus. Während ich packe und darauf warte, dass meine Mutter mich abholt, denke ich daran, endlich Emilia Smechowskis "Rückkehr nach Polen" zu lesen. Meine nächste Reise plane ich nach Breslau - flussaufwärts an der Oder entlang.
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