An guten Tagen geht Karola G. auch mal weiter als bis zum Edeka. Doch heute ist ein normaler Tag. Es ist Februar des vergangenen Jahres und Corona bestimmt die Nachrichten noch nicht so massiv. Sie sitzt in einem Sessel mit pinkem Überwurf und stopft ihre Stoffhose in die Socken. Dann zieht sie noch eine Hose darüber, dann einen Pullover, dann einen Daunenmantel und eine Mütze. Um 17.15 Uhr schaltet sie die NDR-Kochshow aus, verlässt ihre Wohnung und geht drei Stufen am Geländer hinunter zur Haustür. Wer die Tür zu weit aufschwingt, stößt gegen den Rollator, den sie dort abgestellt hat.Karola G. ist Rentnerin, 69 Jahre alt, und geht ihre Runde.
Ein Haus im Norden des Prenzlauer Berg in Berlin, ein grauer Block, Typ Stalinbau, der Wind weht ihr ins Gesicht. Beinah zwanghaft muss sie jeden Tag raus, ihren vier Wänden entkommen. Die Einsamkeit und Isolation, die viele in der Pandemie beklagen, war längst davor ihr Alltag - und sie wird es auch noch sein, wenn Corona überwunden ist und sich alle wieder fröhlich verabreden. Karola G. führt ein Leben, das eintöniger nicht sein kann. Nicht weil sie sich das so ausgesucht hat, eher weil das Leben nichts für sie bereithält.
Karola G. lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen und schiebt den Rollator nach links. Am Griff hängt ein Beutel, "Schau ins Land Reisen". Zum Edeka sind es 150 Meter, etwa 230 Schritte. Nach 30 Metern bleibt sie stehen und zieht die Kapuze hoch. Sie geht weiter und quert eine Seitenstraße.
Vor einer Wand mit Brot- und Milchwerbung hält sie wieder an. Vor knapp zwei Jahren kam sie ins Krankenhaus, weil ihr die Beine zu schaffen machten. Die Diagnose: Diabetes Typ 1. Sechs Jahre lang sei sie nicht zum Arzt gegangen, sie sah nicht die Notwendigkeit, und Geldsorgen waren dringender. Sie musste zwei Monate bleiben und an den Beinen operiert werden. Davor hatte sie keine Gehhilfe.
Sie geht die letzten 50 Meter. Edeka und Obi stehen sich gegenüber, die Eingänge einander zugewandt, dazwischen ein Durchgang. Karola G. wendet ihren Rollator nach links. Neben der Schiebetür mit gelbem Herz ist Schillingers Imbiss: Eine Bude, davor ein Coca-Cola-Kühlschrank, zwei Stehtische, eine Bank und ein Tisch mit roter Wachstischdecke. Der Schnack an der Bude ist ihre einzige Zerstreuung außerhalb ihrer vier Wände.
"Simone! Ick wollt heut eigentlich nich kommen." "Wegen dem Sturm?" "Weil's bei dir so kalt is. Und, war reichlich los heut?" "Nee", sagt Simone. "Du musst ma hier wat vormachen. Dit zieht ja", sagt Karola G. und schwingt vor der Imbissbude den Arm auf und ab. "Muss ick mit'm Chef reden. Möchste wat?" "'N Kaffee. Oder wie spät is dit?" "Siebzehndreißig" "Ja, 'n kleenen Kaffee."
Karola G. schiebt den Tisch etwas zur Seite, sodass der Rollator Platz hat, und setzt sich auf die Bank. Hinter ihrem Rücken laufen die vorbei, die zu Edeka wollen. Sie zieht einen Aschenbecher zu sich heran. Den Pappbecher stellt sie auf dem Rollator vor sich ab. Aus der rechten Jackentasche holt sie eine Packung Zigarillos. Power Gold. Sie zündet sich eine an und legt das Feuerzeug neben den Kaffee. Jetzt scheint G. bereit für Smalltalk. Es ist ihr Ventil: Hauptsache, mit jemandem reden. Hier ist der Prenzlauer Berg noch nicht durchsaniert, hier leben nicht die gut verdienenden Altbauwohnungsbesitzer, hier flanieren keine Touristen aus Amerika oder Israel, hier herrscht kein Bionade-Biedermeier. Die einstige Bevölkerung in dem Viertel ist seit der Wende fast vollständig verdrängt. Karola G. gehört zu den Zurückgelassenen.
Außer Simone ist heute keiner am Imbiss.
"Gott, der is ja kleen!", sagt sie, als ein kleinwüchsiger Mann aus dem Obi Richtung Parkplatz geht.
Simone holt Plastikgabeln aus einer Tüte und stapelt Brötchen um. Sie öffnet die Seitentür und stellt sich neben Karola G.
"Ja, rooch ma erst ma eene."
Eine Stimme rauer als die andere. Simone raucht mit der rechten, die Hand steckt in einem Plastikhandschuh.
"Ick hab jestern den Dieter Bohlen wieder jesehen", sagt G. und nimmt einen Schluck vom Kaffee, "Den 66. hat er dies' Jahr?"
Ihr Sohn wird in diesem Monat 49, sie will ihn dann anrufen. Gesehen hat sie ihn zuletzt vor zehn Jahren. Er wohnt in Rathenow in Brandenburg, wo sie selbst aufgewachsen ist. Eigentlich nicht weit entfernt, zwei Stunden mit den Öffentlichen. Komisch geworden sei der. Vermutlich denkt er von ihr dasselbe. Fragen kann man ihn nicht, die Mutter spricht ihm auf den Anrufbeantworter, direkt erreicht sie ihn nicht.
Karola G. zieht die Kapuze über die Mütze. Ein paar graue Strähnen fliegen ihr ins Gesicht. An diesem Tag wird sie nicht einkaufen. Das hat sie am Vortag erledigt. Für 17 Euro hat sie Joghurt, Kartoffelpuffer, Kinder Pinguí, Paprikaschoten, Radieschen, ein Rätselheft und Zigarillos geholt. Dann hat sie sich zu Simone gesetzt und Kaffee getrunken. Wenn die beiden reden, dann redet meist nur Karola G. Es geht nie um Politik oder Alltag oder um Privates. Sie reden aus Zeitvertreib, was sie sagen, ist oft von banaler Schlichtheit - allein deshalb, weil so wenig passiert in Karola G.'s Leben.
"Mensch, dit is Sommer!", sagt Karola G., als ein Jugendlicher mit kurzen Boxhosen in den Edeka läuft, "Ick komm morgen in Bikini."
"Ick och", sagt Simone.
Es sind Kommentare, Witze, Fragen, das Fernsehprogramm vom Vortag - immer in der Hoffnung, dass wieder etwas Zeit vom Tag verstreicht. Simone antwortet einsilbig.
1966 fing Karola G. an zu arbeiten: Reißverschlüsse fertigen. Da war sie 15. Ihr Vater verschaffte ihr später einen Job bei den Rathenower Optischen Werken, wo sie zehn Jahre arbeitete. Mit 19 bekam sie einen Sohn. Zwei Jahre später starb ihr Vater, ein Loch im Herzen. G. wechselte in die Fleischindustrie. Die erste Firma ging kurz nach der Wende pleite. Sie zog nach Berlin und fand schnell wieder Arbeit, wieder am Band, Kasseler verarbeiten. Ihr ältester Bruder nahm sich mit Ende 20 das Leben. Vom Ehemann lebt sie seit Jahren getrennt, mit ihrer fast 90-jährigen Mutter hat sie auch nur telefonisch Kontakt.
"Ick bin 'n bisschen verrückt. Aber lieber verrückt - ist besser als doof." G. lacht ihr raues Lachen.
"Direkt biste och. Bis de mal 'n paar auf's Maul kriechst", sagt Simone, die für die nächste Zigarette neben ihr steht. Karola G. steckt die zweite Zigarillo an. Ihren Kaffee streckt sie über zwei Stunden, nach einer Stunde ist er erst halb leer. Simone fängt an, Milch, Zucker und Kaffeeweißer wegzuräumen.
"Wat denn, schon wieder keen Kaffee?", sagt Karola G.
"Doch, nur Langeweile. Kann ick ja wieder rausräumen."
Die zweite Fleischfirma kündigte Karola G. 2002 und machte dicht. Es folgten mehrere Brüche in dem, was trocken Erwerbsbiografie genannt wird: Arbeitslosigkeit, Computerkurs, Zeitarbeit. Waschen in Eberswalde, Schokolade herstellen in Reinickendorf und putzen am Potsdamer Platz. Wieder arbeitslos, kurz vor der Rente. Dann bekam sie Arbeitslosengeld II. Heute überweist ihr die Rentenkasse 837 Euro im Monat, 474 Euro davon muss sie für die Miete aufbringen. Von den etwa verbleibenden 360 Euro muss sie alles andere bezahlen, was mitunter schwer ist. Vor ein paar Jahren lebte sie monatelang ohne Strom, weil sie bei den Elektrizitätswerken im Rückstand war. Und die kennen nur ein Prozedere: Rechnung, Mahnung, abdrehen. Von Deutschland im Allgemeinen ist sie enttäuscht. Vom Pflegedienst im Speziellen auch.
"Die ham angerufen, sollen warten, hab ick jesagt."
Simone nickt nur, scheint nicht wirklich zuzuhören.
"Der eene um halb zehne, der andere um halb elfe, jetzt um sieme", sagt G. genervt.
Der Pflegedienst kommt, um ihr Insulin zu spritzen. Von diesem Anruf ist sie abhängig: Erst dann weiß sie, wie lang sie draußen sein kann, wie lang sie unter Leuten sein kann.
Simone packt zwei braune Bratwürste Rücken an Rücken auf eine Pappe, macht Gewürzketchup darauf und wickelt das Ganze in Alufolie ein. G. packt das Paket in den Beutel. Auf dem Weg zurück macht sie zwei Pausen. Ein paar Meter vor der Haustür schaut sie die Fassade hoch und guckt, bei wem Licht brennt, wer zu Hause ist. Gerne wäre sie bei jemandem in der Wohnung, aber außer zu Lothar, den sie als Nachbar kennt, hat sie zu niemandem Kontakt. Hinter jedem Fenster ein eigenes Leben, nur verbinden lassen sie sich offenbar nicht.
Der Pflegedienst ist noch nicht da. Karola G. schaltet den Fernseher ein, Sat.1, "Auf Streife", sie braucht Stimmen um sich. Sie guckt aus dem Fenster. An der Spiegelung in den Autos vor ihrem Fenster erkennt sie, wo im Haus Licht ist. 19:20 Uhr klingelt es.
"Als ich geguckt hab, stand zehn Minuten Fahrweg", sagt die Pflegerin entschuldigend und legt ihren Fahrradhelm ab.
"Ick komm mir manchma verscheißert vor. Ick hab och Stress mit euch", sagt Karola G. "Heut morgen hab ick meine Spritze schon nich bekommen."
Karola G. lässt ihren Ärger raus. Kaum in der Wohnung, denkt sie nur daran, wieder rauszugehen. Die Besuche des Pflegedienstes, nach denen sie sich richten muss, sind ihr ein Hindernis. Die Pflegerin zerkleinert Tabletten in einem Mörser und bereitet zwei Spritzen vor. G. setzt sich in ihren Sessel und bekommt sechs Einheiten in den Bauch, vier Einheiten in den Oberarm.
"Manchmal sind Sie bei mir geplant, manchmal nicht, und dann ist es chaotisch. Morgen komme ich auch wieder." Die Pflegerin schnappt sich den Helm. "Schönen Tag noch."
"Schönen Feierabend."
Als die Tür zu ist, geht Karola G. zum Fernseher. Sie steht ganz nah vor dem Bildschirm. "Big Brother" läuft. "Ihr seid langweilig, hab ick dit schon jesagt?"
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