Ihr Pinsel fliegt schnell über Gesicht und Hals. Beide brauchen eine weiße Grundierung. Katja Reich wechselt zu einem kleineren Pinsel und malt Alexander Beck zwei schwarze Bögen auf die Stirn, wie Vogelschwingen. Vier Stunden lang zeichnet die 55 Jahre alte Maskenbildnerin Karikaturen auf die Gesichter der Schauspieler von „Barock am Main", steckt Haare hoch und fixiert Perücken.
Nachmittags um halb fünf beginnt ihr Arbeitstag im nicht einmal acht Quadratmeter großen Anhänger hinter der Bühne im Hof der Höchster Porzellanmanufaktur. Abends läuft „Der Tartüff oder De Deibel in Gestalt". Beck, nun ganz bleich, sagt: „Im Barock gab es wohl kaum Sonne." Er sitzt bei Reich als erster der neun Schauspieler in der Maske. Vor dem Spiegel stehen etwa 150 Döschen für Rouge und Lidschatten, sechs Becher mit Pinseln, Make-up-Schalen, Fett- und Wasserschminke. Das ist Reichs Werkzeug, ihr Mittel, „den Schauspielern in ihre Rollen zu helfen".
Als Reich Beck das Gesicht pudert, klimpern die Ketten an ihrem Handgelenk, ihre Arme sind mit Tattoos bedeckt. „Geschminkt zu werden hat etwas Zen-Artiges", sagt Beck. Zwölf Minuten später ist seine Maske fertig. Bis zur Aufführung sind es allerdings noch dreieinhalb Stunden. Da müsse man schon aufpassen, dass nichts verwische, sagt er und setzt sich vorsichtig die Brille auf.
ZDF in Mainz ist ihre „Homebase"Der Weg zur Maskenbildnerin war lang für Reich. Sie habe sich und ihre Freundinnen schon früh geschminkt, gestylt und gezeichnet, sagt sie. Mit vierzehn wusste sie, dass ihre Welt hinter der Bühne ist, dort, „wo andere nicht hingucken". Mehrere Ausbildungen hat sie absolviert: Kosmetikerin, Visagistin, Friseurin, dann Maskenbildnerin am Hamburger Schauspielhaus. Ein paar Kilometer weiter westlich an der Reeperbahn verbrachte sie im Operettenhaus Jahre bei „Cats", Ende der Neunziger kam sie der Liebe wegen nach Wiesbaden. Ihr Mann: ebenfalls Maskenbildner. Das ZDF in Mainz ist seitdem ihre „Homebase". Wenn Reich nicht gerade Marietta Slomka oder Claus Kleber schminkt, arbeitet sie bei Filmproduktionen, Hochzeiten und Theaterinszenierungen mit. Als feste-freie Maskenbildnerin habe sie die Flexibilität, „alle Projekte zu machen, die ich möchte". Wie „Barock am Main".
Als nächstes Ensemblemitglied kommt Ulrike Kinbach herein. Sie lässt sich seufzend im Stuhl nieder und wird innerhalb von zwanzig Minuten zur Magd Dorche. „Die zweite Hauptrolle", sagt Reich, und Kinbach erwidert: „Katja ist die erste Hauptrolle, sie macht uns schön." Beide lachen. Kinbach schaut in den Spiegel: „Mit Maske seh' ich schöner aus, oh Gott."Ein Tabletcomputer an der Wand zeigt Porträtfotos als Schminkvorlagen. In den ersten Tagen hat Reich noch ab und zu hingeschaut, „in der letzten Woche geht das komplett auswendig". Micky, ihr 13 Jahre alter Hund, döst unter einem Tisch mit Perücken. Reich steckt Kinbach die Haare hoch. Das Besondere: Das eigene Haar der Schauspielerin geht in das der Perücke über. Im Wagen warten noch zehn weitere Haarteile auf Köpfe, unter ihnen eine Allongeperücke, „traditionell aus Büffel- oder Pferdehaar", die anderen sind aus Echthaar und Kunsthaar. „Heute reißt du dich aber zusammen", sagt Reich zu Kinbach.
Die Schauspielerin sei total kitzelig an den Lippen. „Im Stück riskier ich doch auch 'ne dicke Lippe", sagt Kinbach und bekommt einen tiefroten Strich über den Mund. Sie freut sich: Gleich könne sie wieder „Dummzeug schwätzen mit den Kollegen" und ein Nickerchen im Liegestuhl machen. Reich muss den Eyeliner wechseln, nicht jede Sorte hält bei jedem gleich gut. „Ich kenne die Schwitzgrade aller Schauspieler, die verrate ich aber nicht", sagt sie. Zuletzt befestigt sie die blonde Perücke und kämmt jede Strähne. Erst, „wenn es wie hingerotzt aussieht, ist es perfekt".