Generationenroman "Außer sich" Wer bestimmt deine Identität?
Migration, Antisemitismus, Identität: Sasha Marianna Salzmann, Hausautorin des Berliner Gorki-Theaters, erzählt in ihrem Debütroman "Außer sich" die mitreißende Geschichte einer jüdischen Transperson.
Entschuldigung soll sie sagen, auf Deutsch. Weil sie ihrem Onkel auf die schwarzen Turnschuhe gekotzt hat, gleich auf dem Bahnsteig. Ein symbolträchtiges Wort. Welches andere sollte die kleine Alissa, kurz Ali, sonst zuerst lernen, als sie mit ihrer Familie nach 36 Stunden Zugfahrt von Moskau nach Berlin ankommt?
Die Familie Tschepanow, im Kern die Eltern Konstantin und Valentina und ihre Zwillingskinder Alissa und Anton, sind russische Juden. Ihr Ziel: eine sichere Zukunft für die Kinder. Das Spielzeug bleibt zurück, aber die Bücher dürfen sie alle mitnehmen. Beim Umzug nach Deutschland mit dem Zug ist auch der Großvater Daniil dabei, die Großmutter muss derweil in Moskau noch die Wohnung verkaufen, um dann ihre Eltern ebenfalls nachzuholen.
"Ich hatte keine Ahnung, was das heißt, ein Land zu haben."
In der Sowjetunion als Juden, in Deutschland als Russen diskriminiert, ist die Geschichte um Alissas Familie eng mit den Themen Migration, jüdische Identität, Ankommen und Antisemitismus verwoben. Die Autorin Sasha Marianna Salzmann lässt Ali später sagen: "Ich hatte keine Ahnung, was das heißt, ein Land zu haben."
Salzmann, 1985 in Wolgograd geboren, kam selbst als jüdischer Kontingentflüchtling mit zehn Jahren nach Deutschland. Für ihre Theaterstücke wurde sie mehrfach ausgezeichnet, sie hat sich als Hausautorin des Berliner Maxim-Gorki-Theaters einen Ruf erarbeitet. Die Bühnenerfolge "Muttersprache Mameloschn" und "Wir Zöpfe" behandeln warmherzig und komisch die Geschichte mehrerer Generationen. Immer spielt die russische Herkunft und die jüdische Identität eine Rolle, ähnlich wie nun in ihrem Debütroman "Außer sich", mit dem es Sasha Marianna Salzmann auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat und der bereits mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung ausgezeichnet wurde.
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Der Roman ist autobiografisch gefärbt. Und das ist insofern relevant, dass sich hier eine Stimme meldet, die so noch nicht gehört wurde. Salzmann scheint, wie ihre Protagonistin, ihrer Muttersprache grundsätzlich zu misstrauen. "Weil sie so viel besser ist als die Welt, aus der sie kommt, blumiger und bedeutsamer, als die Realität je sein könnte." Sie geht aber auch viel spielerischer mit dem Deutschen um. Durch die lebendige Sprache, in die russische, jiddische und türkische Wörter und Redewendungen eingestreut sind, zieht einen die Erzählung mitten in dieses Porträt der Generationen.
Auf der Suche nach dem Zwilling
Die Zwillinge Alissa und Anton wachsen gemeinsam auf, doch irgendwann, als Ali ihr Mathestudium abbricht, verschwindet Anton. Sie bekommt eine Postkarte ohne Absender, darauf nur ein Wort: Istanbul. Ali begibt sich auf die Suche nach ihrem Zwilling, folgt ihm in die Türkei. "Und als die Anschläge Istanbul erreichten, spürte sie die Detonation bis nach Tarlabasi und ging so lange nicht an das Telefon, bis die Namen aller Opfer bekannt gegeben waren. Sie hielt die Luft an, bis sie wusste, dass Antons Name nicht dabei war. Dann biss sie die Zähne zusammen, weil sie merkte, dass sie insgeheim gehofft hatte, sein Name würde genannt werden. So hätte sie ihn gefunden." Doch die Reise wird für Ali immer mehr zur Suche nach sich selbst.
Die Erzählperspektive wechselt meist mit den Kapiteln, ebenso wie die Orte und Zeitebenen - es geht nach Moskau, Istanbul und Deutschland, denn Ali wandert durch ihre Familiengeschichte -, doch Ali hält die Episoden als Bezugspunkt zusammen und so funktionieren die Erinnerungen als Erzählung erstaunlich gut.
Transgender in Istanbul
Die betörende Hauptperson denkt nicht daran, sich ein Label aufdrücken zu lassen. Ali will endlich selbstbestimmt leben, und es drängt sie innerlich, ihr Geschlecht zu wechseln. Schon als Kind hadert sie mit ihrer Rolle und will so kurze Haare haben wie ihr Bruder. Die Eltern sind natürlich dagegen, erzählen irgendetwas von der Ehre einer Frau: "Und was ist, wenn ich keine Frau bin?" Die Antwort: "Was bist du dann, ein Elefant?"
In Istanbul findet sie zwar nicht ihren Bruder, trifft dafür bei einer Partynacht aber auf Katho/Katharina/Katüscha, eine Transperson, die ihr Geld mit Tanz verdient. Die beiden kommen sich näher, landen im Bett und Ali lernt ein Transgender-Vorbild kennen. Der Zugang zu Testosteron ist in Istanbul einfach: Das bekommt man auf der Straße. So beginnt Ali eigenhändig eine Hormontherapie. Und möchte Anton genannt werden. Die Mutter glaubt am Telefon noch an Heiserkeit, nicht an Stimmbruch.
Fast beiläufig wird das Zeitgeschehen behandelt, wodurch sich die Geschichte sehr aktuell liest. "Wie spät es war, bestimmte in diesen Tagen der Ministerpräsident", heißt es zur angespannten Situation in Istanbul. Ob Krim, ob Gezi-Park: Ohne Erdogan oder Putin namentlich zu nennen, gelingt es Salzmann politische Themen künstlerisch einzuweben.
Nach der Lektüre schaut man ganz erstaunt den etwa 360-Seiten-schmalen Band an, weil so viel in dieser Geschichte steckt. Salzmann kann Theater - das hat sie bereits gezeigt - und sie kann Prosa, mit Leichtigkeit.
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