Vorsichtig lösen zwei Männer in roten Westen das weiß getünchte Fahrrad aus der Halterung. Der kleine Anhänger, auf dem es befestigt war, steht nur ein paar Meter vom Unfallort entfernt. Die Männer heben das „Ghostbike" an und tragen es zu der Stelle, die vor etwa zwei Wochen zum Schicksalsort geworden ist: für Fußgänger, für Autofahrer - und ganz besonders für einen Radfahrer.
Hier, auf der Europa-Allee, hat Matthias Michel sein Leben verloren. Am 26. Juli wurde der Vierunddreißigjährige auf seinem Rad von einem abbiegenden Lastwagen erfasst und erlag kurz darauf seinen Verletzungen. In Gedenken an ihn sind etwa 200 Freunde, Bekannte und auch Fremde vom Römerberg zur Unglücksstelle geradelt.
„Matthias stand mitten im Leben"Auf dem Asphalt sind die Bremsspuren des Lastwagens noch zu erkennen. Genau wie die Markierungen, die von der Polizei in solchen Fällen auf den Boden gesprüht werden. Alexandros Tamtelen, der den Korso organisiert hat, war mit Michel befreundet. Er blickt auf die roten Kerzen, die Blumen, das „Ghostbike" - und Michels Gesicht, das auf einem Foto an einem kleinen Pfosten zu sehen ist. „Matthias stand mitten im Leben, er ist gerade als Zahnarzt fertig geworden", berichtet Tamtelen, der den Verstorbenen in der Triathlonabteilung der Frankfurter Eintracht kennenlernte. „Wir wollten erst nur das ,Ghostbike' aufstellen, aber dann wurde die Sache immer größer", sagt er. Am Ende kam Unterstützung von der Initiative „Ghostbikes Frankfurt", dem Radentscheid und dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club.
Die Trauergemeinschaft hat sich in einem Kreis um das weiße Fahrrad versammelt. Immer wieder gehen einzelne zur kleinen Gedenkstätte, bücken sich, halten inne. Kurz zuvor hat die beste Freundin des Verunglückten einige Worte des Dankes an die Teilnehmer das Fahrradkorsos gerichtet: „Es ist der Wahnsinn, was ihr im Verein macht. Schade, dass wir aus so einem Grund hierherkommen müssen", sagt sie. Kurze Stille. „Und jetzt redet über ihn: Was habt ihr mit ihm erlebt? Er wäre der Erste, der jetzt einen Spruch gerissen hätte."
Abbiegeassistenten könnten helfenTamtelen geht es allerdings auch darum, ein Zeichen zu setzen. „Radfahrer sind bislang Freiwild", sagt er. Das weiße Fahrrad solle ein Mahnmal sein, nötig sei ein schnelles Umdenken. „Die Politik muss mehr investieren." Zumindest auf Bundesebene gibt es Vorstöße in diese Richtung. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) pocht auf die verpflichtende Ausrüstung von Lastwagen mit Abbiegeassistenten, die optische oder akustische Signale an den Fahrer senden, sobald sich im toten Winkel des Fahrzeugs Fußgänger oder Radfahrer befinden. Der Minister würde solche Systeme „lieber heute als morgen einführen - sofort und ohne Ausnahme", heißt es auf Anfrage aus Berlin.
Während der Speditions- und Logistikverband Hessen/Rheinland-Pfalz die Assistenten zu „einhundert Prozent" unterstützt, wie Geschäftsführer Thorsten Hölser sagt, äußert Rukiye Tunc vorsichtige Zweifel. Sie ist Geschäftsführerin von Tunc Trans, einem Transportunternehmen mit Sitz in Hainburg, und sitzt auch selbst hinter dem Steuer eines Lastwagens. „Das Problem bei solchen Techniken ist: Wenn sie sich abschalten lassen, bringen sie nichts", meint sie. Fahrer seien von solchen Systemen irgendwann derart genervt, dass sie sich nicht mehr richtig konzentrieren könnten. Gerade innerorts sei das aber unabdingbar. „Denn dort sind die Straßen oft zu eng zum Abladen." Vielmehr sei ein Zusammenspiel zwischen Fußgängern, Rad- und Lastwagenfahrern nötig, damit Unglücke wie der Unfalltod Michels künftig verhindert werden können.
In Japan große SeitenfensterAnderswo ist man schon weiter: In Japan sind beispielsweise Seitenfenster in der Beifahrertür seit 35 Jahren verpflichtend. Tunc steht auch dem skeptisch gegenüber: „Dadurch wird die Privatsphäre des Fahrers verletzt." Tamtelen appelliert derweil auch an Autofahrer. „Wir müssen in die Köpfe der Leute hineinbekommen, dass man bei einer gelben Ampel nicht noch extra Gas gibt."
Das weiße Rad ist inzwischen angekettet. Es wird an der Unglücksstelle stehen bleiben. In Vergessenheit wird Michel nicht geraten, obwohl die „Ghostbikes" meist nicht mit dem Namen des Toten versehen werden.