Von Tim Kummert
Nordrhein-Westfalen baut in diesem Schuljahr das inklusive Schulmodell aus. Höchste Zeit - denn der Weg für viele Kinder ist weit und intensive Betreuung notwendig. Eine Bestandsaufnahme.
Adrian sitzt im Sprechzimmer des Landratsamtes in Karlsruhe zum medizinischen Test der Einschulung. Vom anderen Ende des Schreibtisches schaut ihn eine Ärztin skeptisch an: Dieser Junge soll in eine normale Regelgrundschulklasse aufgenommen werden. Das zumindest wollen seine Eltern. Ob das klappen kann?
Die Ärztin fordert Adrian auf, von 1 bis 10 zu zählen. „Auf Deutsch oder Spanisch?", fragt der Junge mit Downsyndrom. Noch heute schmunzelt Adrians Mutter Helga Alcaide, wenn sie diese Geschichte vom Einschulungstest erzählt - denn ihr Sohn wächst zweisprachig auf.
Bundesbildungsministerin Johanna Wanka will die Sorgen um den gemeinsamen Unterricht behinderter und nicht behinderter Schüler beheben. Ein Bildungsprogramm soll Lehrer auf ihre zusätzlichen Aufgaben vorbereiten.
Die Vorurteile gegenüber Adrian sind kein Einzelfall. Tausende behinderte Kinder erleben jedes Jahr Ähnliches, wenn sie sich für die Schule anmelden wollen. Dabei sollten solche Ressentiments schon lange abgebaut sein - zumindest schreibt die UN-Konvention aus dem Jahr 2009 das vor: Sie verpflichtet zum gemeinsamen, vorurteilsfreien Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Kindern in der Schule.
Gemessen an der Gesamtzahl des Nachwuchses mit Förderungsbedarf führt laut der Kultusministerkonferenz Schleswig-Holstein die Liste an: Dort sind 57,5 Prozent in einer Regelklasse. Das Schlusslicht ist Niedersachsen mit gerade einmal 14,7 Prozent. Nordrhein-Westfalen liegt im Mittelfeld mit 23,9 Prozent. Zur Einordnung: Ziel ist eigentlich, bei 100 Prozent anzukommen.
Die Ängste der ElternZumindest am Prozentwert von Nordrhein-Westfalen könnte sich etwas ändern. Denn: Ab dem Schuljahr 2014/2015 bekommen die Schulen in diesem Bundesland zusätzliche sonderpädagogische Förderung. Das Land macht den Geldtopf auf: Mehr Lehrer mit zusätzlicher Ausbildung können eingestellt werden, Vermittler werden künftig ausgebildet.
Der Abi-Abschluss aus Hamburg ist weniger wert als aus München - das sehen viele Eltern so. Während sich die Politik noch schwertut, ist für sie längst klar: Das Abitur muss einheitlich werden.
Der gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern soll somit noch mehr zum Normalfall werden. In einem Papier des Ministeriums für Schule und Weiterbildung heißt es: „Vom Schuljahr 2014/2015 an wird die Versorgung der Schulen, die gemeinsames Lernen praktizieren, auf eine neue Grundlage gestellt."
Der achtjährige Adrian geht mittlerweile in die Klasse 3c der Werner-von-Siemens-Grundschule in Karlsruhe. Es ist eine Regel-Grundschulklasse mit 18 Schülern, er ist eines von drei Kindern mit Behinderung. So wie in Adrians Klasse soll die Inklusion der Regelfall werden. Das Ziel ist nicht nur die Integration als das bloße „Reinsetzen" der Behinderten, sondern vielmehr das echte Einbinden aller Kinder in den Unterricht.
Viel hängt von den Schulleitern ab
Im Alltag ist das oft nicht einfach, etliche Hindernisse sind vorhanden: Die Eltern von behinderten Kindern haben Bedenken, ihr Kind könne vernachlässigt werden, in der Zahl der „Normalen“ untergehen. Damit das nicht passiert, müssen zusätzliche Lernmaterialien bereitgestellt werden. Diese kosten zusätzlich Geld, teilweise benötigt man zur Erstellung die Arbeit von Sonderschulpädagogen.
Die Vorteile für nicht-behinderte Kinder stehen für die meisten außer Frage. Der Beauftragte für Menschen mit Behinderungen am Regierungspräsidium Karlsruhe, Alfred Schwager, meint: „Normale Schüler lernen den Umgang mit Personen, die anders sind. Diese Menschen bringen manchmal herausragende Leistungen.“ Das wäre in der Regel eine ungeheure Bereicherung.
„Barrieren in den Köpfen abschaffen“
Dennoch stehen auch viele Eltern nicht-behinderter Kinder der Inklusion kritisch gegenüber. Teilweise ist die Angst groß, dass die nicht behinderten Kinder unter dem verlangsamten Tempo zu leiden hätten. Auch in Adrians Klasse hatten viele Eltern bedenken: An einem Elternabend habe es eine erhitzte Debatte gegeben, erzählt seine Klassenlehrerin.
Joachim Frisch, der Leiter des Schulamtes in Karlsruhe, kann das bestätigen: „Wir müssen Barrieren in den Köpfen abschaffen. Momentan hängt dabei noch sehr viel von den einzelnen Schulleitern ab.“ Bislang ist die Inklusion im baden-württembergischen Schulgesetz nicht verankert. Diese Änderung soll kommen. Laut dem Landesbeauftragten für die Belange behinderter Menschen in Baden-Württemberg, Gerd Weimer, würde die Gesetzesänderung noch vor dem Ende der Legislaturperiode kommen – die endet 2016.
Das ist die eigentliche Krux bei der Umsetzung der Inklusion. Denn die UN-Konvention ist eher ein Papiertiger, der nur Pro-Forma-Richtlinien vorgibt. Die tatsächliche Bildungshoheit liegt bei den Ländern – was übrigens auch die teils beträchtlichen Unterschiede im Fortschritt der Inklusion erklärt. Es ist, nach wie vor, Ländersache, ob und inwieweit die Inklusion umgesetzt wird. Der Schritt von Nordrhein-Westfahlen scheint dabei in die richtige Richtung zu gehen. Bleibt nur abzuwarten, ob die Landesregierung vollmundigen Formulierungen wie dem Vorhaben „ein breiter werdendes Angebot zu etablieren“, Taten folgen lässt.