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Mauern überwinden

Vor 25 Jahren fiel die Mauer. Hat unsere Generation mit Revolution nichts mehr zu schaffen?


Von Tim Kummert


Dass die Deutschen Revolution können, das haben sie beim Fall der Mauer bewiesen. Doch die heutige Jugend greift, obwohl sie ahnt, dass so manches Problem auf sie zukommt, auf den "Geist der Revolution" kaum zurück. Ein Plädoyer für mehr Mut und für mehr sichtbaren, geeinten Protest.


"Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen, nach Jahren der geistigen, wirtschaftlichen und politischen Stagnation, nach Dumpfheit und Mief, Phrasengewäsch, bürokratischer Willkür und Blindheit", ruft Stefan Heym. Der in der DDR vom Regime geschasste Schriftsteller ist Teilnehmer einer Demonstration am 4. November 1989 auf dem Ostberliner Alexanderplatz. Mehr als eine halbe Million Menschen sind dort an diesem Tag zusammengekommen. Sie fordern Wahlen, Presse- und Versammlungsfreiheit und das Zulassen einer Opposition. Die Demonstrationen nehmen in diesem Zeitraum zu, immer mehr Menschen wehren sich gegen die Unterdrückung. Unter dem Druck des Volkes knickt die Regierung des sozialistischen Apparates fünf Tage später ein - und am 9. November wird das Wunder wahr: Die Mauer, der eiserne Vorhang, fällt. Ein vereintes Deutschland ist damit zwar noch nicht geschaffen - aber der Weg dafür wortwörtlich freigemacht.

Heute, 25 Jahre später, sind die Jugendlichen, die damals auf dem Brandenburger Tor die Quadriga stürmten, selbst Eltern. Ihre Kinder, die heute Jungen in Deutschland, haben scheinbar die besten Zukunftsaussichten: Für sie sind Auslandssemester in Tokio und New York selbstverständlich. Die Welt erkunden sie beispielsweise mit Hilfe des Erasmus-Programms und ihr Studium finanzieren sie sich über Bafög. Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland liegt weit unter dem europäischen Durchschnitt - kurz: Die Jugendlichen in Deutschland haben offenbar ein prima Leben.


Weltweite Proteste - nur nicht in Deutschland 


Nun könnte man glauben, dies wäre der Grund, warum ausgerechnet hier nicht protestiert wird. Im Gegensatz zu Rio, Istanbul, Madrid oder auch London: Auf den Plätzen der Städte steht die junge Generation auf. Man denke an Erdem Gunduz, den jungen Mann auf dem Taksim-Platz in der Türkei, der einfach dasteht. Ohne sich zu rühren - stundenlang. Oder die Frau im roten Kleid, der brutal mit Tränengas ins Gesicht geschossen wird. Hunderte, die in Brasilia das Dach des Nationalkongresses besetzen - und dort friedlich singen.

Von vergleichbaren Protestbewegungen fehlt in Deutschland jede Spur. Selbst das Aufdecken der NSA-Spitzelei (bei der Parallelen zur Stasi gezogen wurden) brachte bei der doch technikaffinen Jugend keine nennenswerten Straßenproteste hervor. Warum? Haben die jungen Deutschen keinen Grund zu protestieren?


Gründe, um auf die Straße zu gehen


Im Gegenteil, denn: So ein sorgloses Leben haben die Jungen gar nicht. Sie wissen beispielsweise, dass sie in der Bundesrepublik tendenziell mit befristeten Arbeitsverträgen zu rechnen haben, während sich ältere Arbeitnehmer oftmals eher auf einen sicheren Arbeitsplatz mit einem unbefristeten Vertrag verlassen können - besonders stark ist dieses Phänomen, wie die "Berliner Zeitung" schreibt, im öffentlichen Dienst ausgeprägt. Fairerweise sei an dieser Stelle erwähnt, dass manche Auszubildende in einigen Regionen einen Dienstwagen und ein Handy angeboten bekommen, nur damit sie die Ausbildungsstelle annehmen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass laut einer DGB-Studie im Jahr 2012 67% der jungen Beschäftigten in der gesamten Wirtschaft gar klagten, immer das Gleiche tun zu müssen. "Immer das Gleiche zu tun" dürfte wohl auch einer der Gründe gewesen sein, warum damals so mancher DDR-Bürger auf die Straße ging.

Es ist auch gut möglich, dass die Auswirkungen der Euro-Krise für Deutschland doch erheblich drastischer werden als bislang. Irgendwann wird die Zeche für die Euro-Rettung präsentiert und bezahlt werden müssen - und zwar von der jungen Generation. Im Zuge dessen ist es durchaus denkbar, dass viele ihren Arbeitsplatz verlieren, weil die Sparmaßnahmen urplötzlich auch Deutschland treffen.


Von der Politik im Stich gelassen

Die Jungen sind außerdem unzufrieden mit der aktuellen Politik. "Zeit Online" veröffentlichte eine Umfrage, die belegt, dass 43% der Deutschen im Alter zwischen 25 und 34 Jahren nicht glauben, dass man in Deutschland offen seine Meinung sagen dürfe. In keiner anderen Altersgruppe sind das so viele. Nur 15% der Jugendlichen fühlen sich, dies zeigen ebenfalls Umfragen, überhaupt von der Politik verstanden.

All dies zeigt: Die heutige Generation von Wählern und Politikern ignoriert den Bedarf an Reformen, den es offensichtlich gibt - weil er gegen den satten Wohlstand ginge. Dabei gäbe es genügend Grund für Protest.

Verschiebung von Revolutionen in den digitalen Bereich

Es ist ja nicht so, dass die jungen Wutbürger seit dem Mauerfall gänzlich von der Bildfläche verschwunden sind. Sie sind nur nicht auf der Straße zu finden, sondern entladen ihre Wut lieber in den sozialen Netzwerken, Twitter und so weiter. Millionen von Posts, die sich beispielsweise auf Prism und Co beziehen - wenngleich bei den Protesten nur wenige Tausend auf der Straße standen. Die Protestkultur hat sich offensichtlich verändert. Laut Statistik waren mehr als zwei Drittel der Demonstranten gegen Stuttgart 21 älter als 46 Jahre. Also genau so alt, dass sie die Wiedervereinigung voll erlebt, wenn auch nicht selbst diese in Berlin aktiv mitbewirkt haben.

Dennoch: Die Sexismus-Debatte „#Aufschrei“ bewies, welche Wucht das digitale Demonstrieren entwickeln kann. Schnell wurde die im Netz angefangene Diskussion in die analoge Welt übertragen - und fand sich auf den Titelseiten der renommierten Blätter wieder.

Proteste verlaufen im Sande

Selbstverständlich ist daher der digitale Protest nicht per se weniger wert als Massenversammlungen auf öffentlichen Plätzen. In Zeiten der Deutschen Wiedervereinigung war ein Demonstrieren in den sozialen Netzwerken schlicht nicht möglich - einen anderen Weg als eingangs erwähnte Großdemos gab es kaum. Im Smartphone-Zeitalter sind die Möglichkeiten des Protests vielfältiger. Zudem lässt sich die Welt nicht mehr einfach in Gut und Böse einteilen: Die großen Utopien sind gescheitert - vor zwei Jahrzehnten wurde klar, dass der Sozialismus als wohltätige, utopienartige Staatsform nicht taugt. Momentan wird deutlich, dass auch dessen Gegenstück nur bedingt zum langfristigen Glück verhilft. Das Dilemma ist diffus. Ja, es geht den Jugendlichen in Deutschland so gut wie wohl nirgends in Europa. Und heute trennt auch kein eiserner Vorhang den Kontinent mehr.

Doch Probleme gibt es auch heute noch, auch wenn sie anderer Natur sein mögen. Und der Protest gegen diese ist zwar da - doch führt er nur in den seltensten Fällen zu einer einflussreichen Bewegung. Ganz im Gegensatz zu den Montagsdemonstrationen von '89, die einen wesentlichen Anteil am Fall der Mauer gehabt haben dürften. Ein geeintes "Wir sind das Volk" erklingt heute praktisch nicht mehr. Dennoch kann ein Video, eine einfache Idee oder ein Facebook-Post ganz enorme Auswirkungen haben. Die Debatte stirbt dann leider allzu oft danach ab - oder versandet in kaum beachteten Diskussionen.

Gemeinsam an einem Strang ziehen

Dabei muss sie auf die Straße getragen – oder zum zentralen Gegenstand in den entsprechenden Foren gemacht werden. Die Deutsche Wiedervereinigung hat vor zwei Jahrzehnten gezeigt, dass keine Grenze oder Einschränkung ewig sein muss und diese Debatten außerordentlich erfolgreich sein können - wenn sie denn ernsthaft in einer großen Öffentlichkeit geführt werden und nicht der Bequemlichkeit der potenziellen Demonstranten zum Opfer fallen.

In Ländern wie der Türkei oder Spanien werden die Menschen von der blanken Existenzangst auf die Straße getrieben. Der Protest in Deutschland dagegen ist weitgehend unsichtbar. Doch er ist da, denn wir, die jungen Menschen wollen lernen, arbeiten und Verantwortung übernehmen. Die Aktivität auf Facebook und Twitter ist enorm, das ist der Widerstand gegen Ungerechtigkeit und Bevormundung. Dieser Widerstand hatte die Kraft, ein getrenntes Volk zu vereinen und hat diese Kraft auch heute noch, um Zukunft zu gestalten. Es braucht dazu aber einen geeinten Protest, der dann auch, wie Heym richtig sagte, "Fenster aufstoßen" kann.
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