Witten.
Christina Schiffer (23) und Wolfgang Lippert (71) aus Witten sprechen
über die Bundestagswahl. Trotz Altersunterschied gibt es
Gemeinsamkeiten.
Sie könnten unterschiedlicher kaum sein: Kinderpflegerin Christina Schiffer ist 23 Jahre alt und engagiert sich bei einem interkulturellen Projekt der Gruppe „Theaterspiel“. Sie ist ein Adoptivkind, geboren in Brasilien. Wolfgang Lippert ist 71 Jahre alt, kommt aus Schlesien, ein Kind der Nachkriegszeit. Er ist ehemaliger Finanzbeamter und Vorsitzender der Heimatfreunde Stockum/Düren. In einem Gespräch über die Bundestagswahl stellen die beiden Wittener fest, dass sie mehr gemeinsam haben, als sie gedacht hätten.
Wie fanden Sie das Fernsehduell der Kanzlerkandidaten?
Wolfgang Lippert: Da war ja überhaupt nichts Neues dabei. Also mich hat weder Herr Schulz noch Frau Merkel wirklich überzeugt.
Christina Schiffer: Ich war ziemlich enttäuscht, auch von der Runde der kleinen Parteien. Abgesehen davon muss man sagen, dass die Fragen der Moderatoren sehr beschränkt waren. Das Format erlaubt den Politikern nur sehr kurze Antworten. Wie sollen sie da ihre Position richtig erläutern?
2017 ist ein Wahljahr. Wie wichtig ist es Ihnen, wählen zu
gehen? Denken Sie, es ist ein wirksames Mittel zur Gestaltung des
politischen Alltags?
Schiffer: Ich konnte bisher ja noch nicht so oft wählen. Aber ich denke, dass meine Stimme ein wichtiges Mittel ist, und werde auch dieses Mal wählen gehen.
Lippert: Seitdem ich 21 bin, habe ich immer gewählt, das war wichtig für mich. Auch wenn meine Stimme alleine vielleicht nicht viel zählt, mit vielen anderen zusammen bringt sie schon was.
Was halten Sie von Leuten, die sich aus Protest enthalten?
Schiffer: Das ist für mich keine Form des Protests.
Lippert: Eine faule Ausrede. Was für ein System schwebt den Leuten denn vor? Manchen Leuten geht’s einfach zu gut.
Schiffer: Absolut, das sehe ich auch so. Wenn ich mir
in Facebook-Kommentaren anschaue, worüber die Leute sich beschweren. Zum
Beispiel, dass sie nicht in den Urlaub fahren können oder die Mieten
steigen. Das sind alles Erste-Welt-Probleme.
Was meinen Sie damit, den „Leuten geht es zu gut“?
Lippert: Ich habe meine Kindheit in Witten in einem
ausgebombten Haus der 1950er-Jahre verbracht. Wir hatten im Erdgeschoss
einen kleinen Laden, dahinter haben wir gewohnt. Die Stadt war zu 90
Prozent zerstört, ich habe in Ruinen gespielt. Notstände wie zu dieser
Zeit gibt es heute nicht. Die Leute klagen auf hohem Niveau.
Schiffer: Mir ist das bei einer Reise nach Brasilien besonders klar geworden. Die Menschen leben teilweise neben Müllkippen und müssen den Gestank ertragen. Kinder kriegen Windpocken und können nicht geimpft werden. Ich will die Probleme der Menschen hier nicht kleinreden. Wenn ich aber so was wie in Brasilien sehe, frage ich mich, wie sich die Leute beschweren können, dass ihre Wohnung zehn Zentimenter zu klein ist.
Kommen wir zu den Themen zurück, die unser Land beherrschen.
Fragen wir mal so: Wenn Sie Kanzler werden würden – welche Themen würden
Sie in den ersten Monaten als Erstes anpacken?
Lippert: Für mich wäre es wichtig, die Zukunft der
Arbeitswelt weiter zu entwickeln. Also die Zukunft der Menschen zu
gestalten, die dafür arbeiten, dass ich als Pensionierter Geld bekomme.
Gerade im Ruhrgebiet müsste man sich darum kümmern, leerstehende
ehemalige Zechengelände aufzuarbeiten und sinnvoll zu nutzen. Im
Lebensalltag finde ich übrigens auch den Abbau von Bürokratie wichtig.
Früher hat man für eine Steuererklärung vier Seiten ausgefüllt, jetzt
20. Das macht doch alle verrückt.
Schiffer: Als Kinderpflegerin und Mutter kann ich das bestätigen. Wenn eine Erzieherin als Tagesmutter arbeiten will, muss sie sich erst einmal beim Jugendamt und beim Bauamt anmelden, einen Zusatzkurs besuchen und etliche Versicherungen abschließen. Das ist zu viel Bürokratie. Wer beschließt das überhaupt?
Frau Schiffer, was würden Sie anpacken, wenn Sie Kanzlerin wären?
Schiffer: Digitalisierung ist für mich ein entscheidendes Thema. In meiner neuen Wohnung im Hammertal habe ich nur eine 1000er-Leitung.
Lippert: Was, das gibt’s noch?
Schiffer: Ja, wirklich. Davor hatte ich eine 16 000er-Leitung. Ich brauche das Internet für mein Studium. Ich will auch nicht für jeden einzelnen Antrag, den ich stelle, zum Rathaus fahren müssen. Wir sind in Witten und nicht auf irgendeinem Dorf.
Viele Menschen leben in
Filterblasen, gerade durch soziale Medien. Wie oft kommen Sie mit
Menschen ins Gespräch, die anders denken?
Schiffer: Tatsächlich habe ich in meinem Umfeld fast
nur Leute mit der gleichen Meinung. Ich wüsste nicht, wie ich jemandem
begegnen würde, der sagt, es kämen zu viele Flüchtlinge. Ich selbst habe
viele Erfahrungen mit Rassismus gemacht. Aber vielleicht stecke ich die
Leute auch zu sehr in Schubladen und könnte meine eigenen Vorurteile
mal infrage stellen.
Lippert: Ich komme öfters mit Andersdenkenden ins Gespräch, aber nicht mit extremen Meinungen. Einzeln würde ich das Gespräch mit solchen Leuten suchen, in einer Gruppe wäre das schwierig.
Fassen wir zum Schluss zusammen: Was sind für Sie beide die Herausforderungen bei der Wahl?
Lippert: Ich wünsche mir, dass alles in Ruhe abläuft
und es keine Randale gibt. Nach Ereignissen wie in Hamburg bin ich
beunruhigt. Ich hoffe auch, dass wir eine vernünftige Regierung bilden
und in Bewegung kommen werden.
Schiffer: Ich sehe Politiker in der Verantwortung, Abstand vom Populismus zu nehmen. Nach Brexit und Trump habe ich schon ein mulmiges Gefühl. Besonders medial müsste mehr getan werden. Medien sollten auch mal Positives berichten, nicht nur Schlechtes.
Lippert: Das stimmt. Ich lese immer was Negatives, wenn ich meine Zeitung aufschlage.
Schiffer: Von Dingen, die gut laufen, müsste mehr berichtet werden. Das wünsche ich mir in Zeiten von Fake News gerade von vertrauenswürdigen Medien.
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