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Marie Davidson und ihr Album "Working Class Woman" - DER SPIEGEL - Kultur

"Langsam geht es mir besser", sagt Marie Davidson, "aber ich hatte im Sommer 2017 einen Burnout." Keinen großen, versichert sie sofort, "aber trotzdem heftig genug, als dass ich alles in meinem Leben in Frage stellte." Es ist nicht so, dass einen diese Offenbarung der 31-Jährigen überraschen würde. Dass es aufwühlende Probleme im Leben der frankokanadischen Elektronik-Musikerin gibt, ist allgegenwärtig auf ihrem neuen Album "Working Class Woman". Einerseits gelingt Davidson, bisher vorrangig in Techno-Kreisen bekannt, damit ein weiterer großer Schritt in Richtung Popstarwerdung, andererseits ist es auch das Zeugnis einer Künstlerin, die sich in einer existentialistischen Lebenskrise befindet.

Dazu kommt pure Erschöpfung: Mit atemberaubender Produktivität hat sich Marie Davidson in den letzten fünf Jahren in der globalen elektronischen Musikszene etabliert: Eine Album-Veröffentlichung pro Jahr? Minimum! Die Liste der Labels, auf denen sie solo und mit Essaie-pas (der gemeinsamen Band mit Ehemann Pierre Guerineau) veröffentlicht, liest sich wie ein Lexikon des gehobenen Indie-Adels: Constellation, HoloDeck, Cititrax, DFA, Ninja Tune. Zugleich haftete ihrer von zahlreichen Genreeinflüssen geprägten Musik (u.a. Techno, Italo-House, Disco, Ambient, Industrial-Rock) immer auch ein dunkler Glamour an, der weit über den Horizont subkultureller Zusammenhänge hinaus wies: Hier reifte eine Musikerin und Produzentin heran, der es bald zu eng in ihrer Nische werden würde.

"Working Class Woman" könnte nun das Album sein, mit dem Marie Davidson der Durchbruch gelingt. Nicht zuletzt deswegen, weil sich alle ihre Ängste und Schmerzen der vergangenen Jahre in die Grundstimmung der zehn Tracks eingeschrieben haben. Sie tragen die Schwere, aber auch die Magie eines ungewöhnlichen Menschen in sich.

Was es für die Künstlerin natürlich nicht leichter macht, darüber zu sprechen. Sichtlich aufgewühlt sitzt Davidson an einem Tisch in der Mitte ihres Ateliers im Multikulti-Viertel Mile End von Montreal. "Die Musik hat mir das Leben gerettet. Sie hat mir geholfen der Mensch zu werden, der ich heute bin", sagt sie. "Mein Studio ist der eine Platz in der Welt, den ich ausschließlich mit positiver Energie verbinde. Hier entsteht meine Musik, hier fühle ich mich Zuhause."

"Verdammte Flughäfen! Verdammte Flugzeuge!"

"Working Class Woman" entstand jedoch, zum großen Frust der Künstlerin, nur im geringen Umfang hier, in der Sicherheit ihrer vier Wände. Dem steten Tournee-Reisen geschuldet, komponierte sie die Tracks buchstäblich zwischen den Orten. Die Unruhe, die das für Davidson bedeutete, kann man in der Musik spüren, sie steht unter einer permanenten nervösen Anspannung. Nicht zufällig beginnt das Album mit "Your Biggest Fan", einer mit angespannten Thriller-Sounds unterlegte Sprachfetzen-Collage, der einerseits von liebevollen Freunden und Fans erzählt, die Davidson auf Konzerten oder im Internet begegnet, aber auch von Häme, Neid und verletzenden Gerüchten: "Why are you so strange?", sagte eine Stimme. "What is wrong with you?", "I heard she always sleeps alone."

Die Extremerfahrungen des beginnenden Ruhms haben Davidson, die ohnehin zum beständig hadernden Nachdenken über die Welt und ihre Rolle darin neigt, zu einer noch tieferen Selbstanalyse getrieben. Das begann schon vor zwei Jahren auf ihrem Soloalbum "Adieux Au Dancefloor", aber nach eigener Einschätzung noch naiv, passend zur ungebremsten jugendlichen Leidenschaft, mit der sie sich damals dem Partynächten und der Musik hingab. Erst jetzt sei sie bereit für einen echten Reality-Check gewesen: "Ich bin noch immer genauso enthusiastisch, was die Musik betrifft. Aber das Touren, die Festivals, das Clubbing, all das fühle ich nicht mehr mit der gleichen Begeisterung. Verdammte Flughäfen! Verdammte Flugzeuge!"

Die Belastungen des Tourlebens manifestierten sich in chronischen Erschöpfungszuständen, Hautausschlägen und einem mehrere Wochen lang tauben Arm, von der chronischen Schlaflosigkeit, die Davidson, wie sie sagt, seit zehn Jahren umtreibt, ganz zu schweigen. Auf ihren zunehmend dramatischen Zustand reagierte sie mit einem deutlich reduzierteren Tourplan von nur 46 Auftritten in diesem Jahr (im Vergleich zu 74 in 2017). Die gewonnene Zeit habe sie zur Selbstpflege genutzt, sagt sie.

"Psychologie als Fantasiegestalt"

Allererste Maßnahme sei es gewesen, die in der Clubkultur allgegenwärtigen Drogen ad acta zu legen, auch wenn es ihr nicht leicht gefallen sei. Parallel begann sie eine Psychotherapie, da sie das Gefühl hatte, ihre drängenden Fragen nur mit einer kompetenten, außenstehenden Person erörtern zu können: "Was steckt hinter all der Angst und der Wut in meinem Leben? Warum bin ich so tieftraurig? Warum bin ich so angepisst von der Welt? Warum bin ich chronisch krank?" Ihr Heilungs- und Lernprozess sei noch lange nicht abgeschlossen, aber sie spüre bereits jetzt positive Veränderungen: "Meine gesamten Zwanziger habe ich quasi in der Zukunft gelebt - und das ist oft auch immer noch so. Ich habe eine Vergangenheit und eine Zukunft, aber wo ist meine Gegenwart?"

Die Therapie hat Davidson in "The Psychologist" verarbeitet, einem der zentralen Songs des Albums, dessen klanglicher Wahnsinn sich aus Samples aus den Filmen "Possession" von Andrzej Zulawski und "Woman Under The Influence" von John Cassavettes sowie ihrer eigenen Stimme speist. Wobei sie betont, dass nicht zwingend sie es sein müsse, die spricht: "Der Psychologe ist für mich eine Fantasiegestalt, ein Mensch, der mich versteht und mir dabei hilft, mich zu heilen. Er ist diese intelligente, starke und verlässliche Figur, die wir uns alle im Leben herbeisehen."

Davidsons übliche Reaktion auf die Irritationen, die die Welt für sie bedeutet, ist, wie für viele von uns: Arbeit. Was die Probleme nicht besser macht, sondern verstärkt. Über einem monotonen Beatgerüst breitet sie in "Work It" ihr einerseits kreatives, andererseits destruktives Lebensmotto aus: "You wanna know how I get away with everything?/ I work. All the fucking time." Sie selbst kategorisiert sich als Workaholic, wobei sie darauf hinweist, dass diese Neigung einen biografisch und sozialistisch geprägten Überbau habe.

Für sie sei die Arbeiterklasse weit mehr als ein gut klingender Begriff im Albumtitel: "Gerade in Zeiten, wo die Kluft zwischen den Klassen immer größer wird, ist es wichtig, zu wissen, wer die eigenen Leute sind. Die Familien meiner Eltern gehören dem französischsprachigen Proletariat von Quebec an, sie alle mussten immer hart arbeiten." Unmittelbar nach ihrem Schulabschluss zog sie mit 16 von Zuhause aus und finanzierte ihr Leben mit Jobs in Cafés, Bars und Restaurants. Erst seit kurzer Zeit kann sie von ihrer Musik leben. "Insofern stellt sich mir die Frage gar nicht: Ich gehöre der Arbeitsklasse an, ich bin die Working Class Woman."

Draußen ist es mittlerweile Nacht geworden. Die Ankunft ihres Mannes Pierre Guerineau markert das Ende des Gesprächs. Die beiden wollen eine kurze Essenspause machen, bevor Marie Davidson eine weitere Nachtschicht absolvieren will. Es gilt, das Liveset für die aktuelle Album-Tournee vorzubereiten. "Ich wünschte mir, all meine Probleme in den Griff zu bekommen", sagt sie zum Abschied. "Doch da ich so endlos viel Angst, Schmerz und Frust mit mir herumtrage, wird das wohl nie möglich sein. Aber ich habe das Gefühl, dass ich gerade lerne, besser damit umzugehen."

Man würde es Marie Davidson von Herzen gönnen. Ihrer selbst wegen, natürlich. Aber auch, weil der Welt ein sensibler Popstar wie sie sehr gut tun würde.

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