Putzbrunn - Brigitte und Klaus Lange pflegen ihre geistig behinderte Tochter seit mehr als 50 Jahren. Doch mit dem Alter kommt die Ungewissheit: Wer sorgt für unser Kind, wenn wir sterben?
Zuerst hat Susanna Lange, 50, die Füchse links liegen gelassen. Sie waren lange ihre Helden, sie hingen als Bilder in ihrem Zimmer, zuhauf. Doch dann kam die Fußball-WM in Deutschland. Susi, wie sie ihre Eltern nennen, hat plötzlich neue beste Freunde entdeckt. Ballack, Klose, Asamoah. Susi ist Autistin, für sie gilt die höchste Pflegestufe. Susi lebt in ihrer eigenen Welt.
Nach der Weltmeisterschaft haben die Eltern, Brigitte und Klaus Lange, die meisten Fuchs-Bilder abgehängt und sie durch Nationalspieler ersetzt. In der Welt von Susi hat Torjäger Miroslav Klose sogar einen Doktortitel. Warum, weiß keiner. Die Füchse hat sie vergessen und nie mehr von ihnen gesprochen. Brigitte Lange ist 83, Klaus Lange 85. Sie haben ihr Kind ein Leben lang gepflegt. Je älter sie werden, desto größer wird die Angst. Wird sie sich an uns erinnern, wenn wir tot sind? Oder ereilt uns das Schicksal der Füchse?
Susi und ihre drei PuppenDas Wohnhaus der Langes befindet sich in Putzbrunn. Die Wohnstätte der Lebenshilfe ist keine fünf Minuten zu Fuß entfernt. Susi sitzt in ihrem Zimmer im ersten Stock auf einem Stuhl und schaut fern. Im Nachmittagsprogramm läuft eine Zeichentrick-Serie auf Kika. Susi hält drei Puppen in den Händen. Ballack, Dr. Klose und Asamoah. Mehrere hundert Bilderbücher stehen in einem Regal, daneben ein Bild von Ballack, wie er auf Krücken läuft. Brigitte Lange lehnt im Türrahmen. Sie arrangiert sich mit den Freunden ihrer Tochter. Sie erklärt: „Sie leben. Sie sind real. Wenn sich die Fußballer die Nägel schneiden lassen, dann habe ich eine Chance, ihr die Nägel schneiden zu dürfen."
Susi ist seit ihrer Geburt geistig schwerbehindert. Rund um die Uhr braucht sie jemanden, der sie betreut. Sie benötigt Hilfe etwa beim Essen, Zähneputzen oder Anziehen. Nach dem Sozialgesetzbuch gilt für ihre Behinderung die höchste Pflegestufe. Die tägliche Gesamtpflegezeit beträgt mehr als siebeneinhalb Stunden. Susi wird unter der Woche immer von 9 bis 16 Uhr in der Lebenshilfe betreut. Gemeinsam pflegen die Eltern ihre Tochter seit mehr als einem halben Jahrhundert. Mit dem Alter drängen sich Fragen auf, etwa: Wie lange kann ein Rentnerpaar einen erwachsenen Menschen pflegen? Oder: Wo lebt Susanna Lange in zehn Jahren? Während Susi in ihrem Zimmer mit ihren Puppen spricht, sagt Brigitte Lange: „Solange wir zu zweit sind, trauen wir es uns noch zu." Gleichwohl schiebt sie hinterher: „Sicher. Es wird höchste Zeit, weil auch wir hinfällig werden." Sie sagt „hinfällig werden" und meint sterben.
Nach Angaben der Lebenshilfe wohnen im Landkreis München fünf Familien, in denen behinderte Angehörige von ihren Eltern gepflegt werden und mindestens 45 Jahre alt sind. Darunter befinden sich drei alleinerziehende Mütter. Das sind allerdings nur diejenigen, die bei der Behinderteneinrichtung gemeldet sind. In Wirklichkeit dürften es viel mehr sein. Die Langes sind fast ausschließlich mit Familien befreundet, in denen behinderte Erwachsene noch Zuhause wohnen. Unter anderem weil Heimplätze zunehmend rar werden, pflegen manche Eltern ihre behinderten Kinder so lange selbst, wie es irgendwie geht. Harry Zipf von der Lebenshilfe meint, oft weigere sich auch der behinderte Angehörige auszuziehen. Das führe freilich zu Problemen. Denn wie die Kinder werden auch die Eltern immer älter. Vielen fällt es irgendwann körperlich schwer, einen erwachsenen Menschen vollständig zu versorgen, der im Grunde genommen ein Kleinkind ist. Doch Zipf weiß, was manchen Eltern noch schwerer falle: das eigene behinderte Kind loszulassen.
Es war das Jahr vor der Fußball-WM, als Susi zum ersten Mal einzog in die nahegelegene Wohnstätte der Lebenshilfe für geistig behinderte Menschen in Putzbrunn. Brigitte und Klaus Lange hatten ihrer Tochter jahrzehntelang unter anderem zweimal täglich Luminaltabletten eingegeben, ihr dreimal täglich die Hände gewaschen und ihr geholfen bei den unregelmäßig auftretenden epileptischen Anfällen. Nun übernahmen all das professionelle Pfleger. Das war freilich eine Erleichterung für die Langes. Es war aber auch der Versuch, Abschied zu nehmen und gewissermaßen ein neues, eigenes Leben anzufangen. Doch der Versuch scheiterte.
52 behinderte Menschen leben in zwei Wohnstätten in Putzbrunn. Davon entfallen 34 Plätze auf Bewohner mit geistiger Behinderung. Im zweiten Haus versorgen die Betreuer 18 Menschen mit Mehrfachbehinderung. Zuletzt klagte man in Putzbrunn über zu wenig Pflegepersonal. Junge Menschen entscheiden sich schließlich kaum noch für Berufe wie Behindertenpfleger. Experten vermuten, dass sich die personellen Probleme in den nächsten Jahren massiv verstärken. Hinzu kommt, dass immer mehr behinderte Menschen nicht mehr von ihren Eltern gepflegt werden können, weil diese zu alt werden. Doch in den Wohnheimen fehlen schon jetzt ausreichend Plätze. Das führt dazu, dass nicht alle Familien, die einen Platz im Heim beantragen, auch einen bekommen. Zipf meint, oft gebe es einfach keine geeignete Wohnform in der Nähe. Eine Mitarbeiterin der Putzbrunner Einrichtung bestätigt: „Wir sind voll."
Susi lebte im zweiten Haus. Drei Jahre lang ging alles gut. Dann fing sie an zu randalieren. Sie war unzufrieden, die Lebenshilfe war unzufrieden und die Langes waren unzufrieden. Mutter Brigitte wolle sich nicht beschweren, wie sie sagt. Aber sie verstehe nicht, wieso ausgerechnet unerfahrene 19-Jährige, die gerade Abitur gemacht hätten, eine erwachsene Frau pflegen müssten. Also holten die Eltern ihre Tochter wieder nach Hause. „Da waren wir ja noch fit", sagt Brigitte Lange und winkt ab.
Vater, Mutter und Tochter sitzen gemeinsam am Küchentisch. Sie blättern durch das Familienfotoalbum. Draußen wird es langsam dunkel, weshalb sich alle vorbeugen, um die Fotos gut sehen zu können. Brigitte Lange hat in Handschrift auf die erste Seite geschrieben: „Gute und schlechte Zeiten." Ein Foto zeigt Susi in ihrem Zimmer vor einem Bild mit einem gemalten Fuchs. Aufgrund von Susis Behinderung war es der Familie kaum möglich, in den Urlaub zu fahren. Man könne einfach nichts planen, begründet Klaus Lange, der emeritierter Professor für Theoretische Elektrotechnik an der Bundeswehr-Uni in Neubiberg ist.
Da Susi oft der Mittelpunkt der Familie war, musste das zweite Kind der Langes oft zurückstecken. Der Bruder, gesund, heute ebenfalls promoviert, hat laut Brigitte Lange bis heute kein gutes Verhältnis zu seiner Schwester. Auf einem Foto sieht man Susi als Jugendliche. Sie steht im Wald zwischen abgesägten Bäumen. An dem Ort, wo das Foto entstanden ist, befindet sich heute das Lebenshilfe-Gebäude in Putzbrunn. Die Langes haben schließlich ihr Haus bewusst in unmittelbare Nähe zu einer Behinderteneinrichtung gebaut. „Wir wussten, dass die Lebenshilfe dort bauen wird. Also sind wir dahin gezogen. Da sieht man schon, dass das Ganze das Leben beeinflusst", sagt Brigitte Lange, die Physik an der TU München studiert hat. Gearbeitet hat sie nie. Sie glaubt, dass Eltern von behinderten Kindern zwei Möglichkeiten haben: „Entweder man gibt das Kind gleich ins Heim oder behält es. Aber dann ist die ganze Lebensplanung durchkreuzt."
"Dann hätte ich die Schwangerschaft abgebrochen"Und dann sagt sie gleich dreimal hintereinander einen Satz, den vermutlich nur jemand guten Gewissens sagen kann, der seine eigene Tochter mehr als 50 Jahre lang gepflegt hat: „Wenn ich gewusst hätte, was auf uns zukommt, hätte ich die Schwangerschaft abgebrochen." Das habe nichts damit zu tun, ob das Leben eines behinderten Menschen lebenswert sei. Diese Debatte gebe es ja im Bundestag. „Das ist aber ein Schmarrn. Die Belastung für die Familie ist einfach total." Sie sehe das an ihrem eigenen Sohn. Zudem könne man selbst nicht das Leben führen, „wie man es sich eigentlich vorgestellt hat".
Vor fünf Jahren hat sich Brigitte Lange die Schulter gebrochen. Ihr Mann war inzwischen außer Stande, die Pflege der Tochter alleine zu übernehmen. Also musste Susi zum zweiten Mal in die nahegelegene Wohnstätte einziehen. Sie wollte eigentlich bereits nach ein paar Wochen wieder zurück nach Hause. Doch die Langes wollten, dass Susi im Heim bleibt. Brigitte Lange erinnert sich noch gut an den Moment, als sie nachgeben musste: „Das war so rührend", sagt sie. „Susi sagte: Ich geh da nicht wieder hin. Ich habe natürlich gefragt warum? Dann sagte Susi: Ihr kapiert es nicht. Ich will wohnen in der Theodor-Heuss-Straße 10." Es ist die Adresse des Hauses der Langes in Putzbrunn.
Hier redet man am Küchentisch offen über den Tod. Die Langes haben Vorkehrungen für die Zeit nach ihrem Tod bezüglich Susis Zukunft getroffen. Sie haben Anteile erworben an einem Heim bei Wasserburg, in dem das Personal und die Einrichtung auf Autisten spezialisiert sind. Als Gesellschafter hätten sie umgehend ein Anrecht auf einen Heimplatz. Doch ob es ihrer Tochter dort gefallen würde, können sie freilich nicht vorhersagen. Die Erfahrungen in der Lebenshilfe lassen sie jedenfalls zweifeln. Brigitte Lange bringt die folgenden Sätze schließlich kaum heraus, ohne zu weinen: „Andere Eltern auf der Welt können in Ruhe sterben. Wir können nicht einmal das. Das ist ein ganz schlechtes Gefühl. Man darf gar nicht darüber nachdenken, dass man sie da lassen muss."
Ob Susi realisiert, dass sich ihre Eltern im fortgeschrittenen Lebensalter befinden, weiß das Rentner-Paar nicht. Brigitte und Klaus Lange sind sich nicht sicher, aber sie meinen, dass Susi nach ihrem zweiten Heimaufenthalt gar nicht zu ihren Eltern zurückwollte, sondern vielmehr in das Haus und insbesondere ihr Zimmer, in ihre Welt, zurück zu Dr. Klose und den anderen. Sie habe schließlich nie gesagt: „Ich will zu Mama und Papa."
Anmerkung der Redaktion: Klaus Lange ist im Januar 2016 mit 85 Jahren verstorben. Susi lebt inzwischen in einem Heim.
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