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Italien: Noch nicht reif für einen schwarzen Kapitän

"In Afrika bin ich nie gewesen": Italiens Stürmer Mario Balotelli © Claudio Villa/Getty Images

Mario Balotelli lachte viel, auf einmal wurde seine Miene ernst, den Blick richtete er auf den Boden. Er hatte etwas mitzuteilen auf der Präsentation von Demoni, dem neuen Buch des Autors Alessandro Alciato. Es handelt von 13 Persönlichkeiten aus dem italienischen Fußball, die auf dem Weg nach oben in den Kampf mit ihren inneren Dämonen treten mussten. Gewonnen hat Balotelli aber noch lange nicht, vieles steht ihm möglicherweise gerade erst bevor. "In meinem Leben habe ich viel Rassismus und unbegründete Angst vor Fremden miterlebt", sagte der Stürmer. Was er jedoch am wenigsten verstehen könne: "Ich bin in geboren und aufgewachsen, in Afrika bin ich nie gewesen. Italienischer Staatsbürger werden durfte ich aber erst mit 18, das war hart als junger Mensch, die Politik muss ihre Gesetze ändern."

Balotelli kam als Sohn ghanaischer Einwanderer auf Sizilien zur Welt, früh zog er mit seiner Familie in die Provinz Brescia im Norden Italiens, im Alter von drei Jahren gaben ihn seine Eltern an eine Pflegefamilie ab. Meist stand er wegen allerlei Unbeherrschtheiten und Eskapaden im Mittelpunkt, oft auch wegen seines unbestreitbaren Talents. Dass seine Person seit jeher eine politische Rhetorik umgibt, war jedoch in den seltensten Fällen Balotellis Schuld. Das Enfant terrible scheint unter dem neuen BVB-Trainer Lucien Favre in Nizza gereift zu sein und äußert sich neuerdings in dieser Debatte, die das Land spaltet wie lange nicht.

Angesprochen hatte Balotelli das ius soli (Recht des Bodens), also die Staatsbürgerschaft für alle Kinder, die innerhalb der italienischen Grenzen geboren wurden. Eigentlich geht es aber um das große Thema Migration, das von den inzwischen regierenden Populisten während des Wahlkampfs zur Glaubensfrage erklärt wurde. Entsprechend ließ auch die Antwort von Lega-Chef Matteo Salvini nicht lange auf sich warten. "Lieber Mario, das Thema 'ius soli' ist weder für mich von Relevanz noch für die Italiener", schrieb er auf Twitter. "Viel Spaß bei der Arbeit, und zwar der mit dem Ball." Später fügte der neue Innenminister noch hinzu: "Balotelli kann gerne etwas dazu sagen, wenn er in die Politik geht und Premier wird. Bis dahin ist sein Job Tore machen, jeder nach seinen Fähigkeiten."

Ein Kapitän müsse repräsentativ für das Land sein

Seine Fähigkeiten darf der 27-Jährige nach fast vier Jahren Abstinenz inzwischen wieder in der Squadra Azzurra einbringen, das gefällt in Italien lange nicht jedem. Für den neuen Nationaltrainer Roberto Mancini ist Balotelli hingegen ein Fixpunkt für den Umbruch, der Italien nach der verpassten Qualifikation für die Weltmeisterschaft in Russland bevorsteht. Sie haben eine besondere Beziehung zueinander, schon bei Inter Mailand und Manchester City wusste Mancini die naiven Tollheiten des damals jungen Stürmers souverän zu moderieren. Seither sind einige Jahre vergangen, kürzlich wäre der erste dunkelhäutige Spieler in der Geschichte der Azzurri beinahe auch ihr erster dunkelhäutiger Kapitän geworden.

Die Tradition in Italien sieht es vor, dass der Spieler mit den meisten Länderspieleinsätzen die Binde trägt. Die Senatori um Gianluigi Buffon und Daniele De Rossi haben nach der Blamage in den Play-offs gegen die Schweden ihren Rücktritt erklärt, Verteidiger Leonardo Bonucci drohte verletzungsbedingt auszufallen. Balotelli wäre der nächste in der Hierarchie gewesen, weshalb sich in den sozialen Netzwerken bereits Hasstiraden gegen ihn breitmachten. Das war einige Tage vor dem Wortgefecht um das ius soli, und bereits da hatte Salvini seine Meinung über Balotelli kundgetan: Ein Kapitän müsse repräsentativ für das Land sein und dürfe vom Trainer nicht nach "soziologischen, philosophischen oder anthropologischen Motiven" ausgewählt werden, sagte der Rechtspolitiker. Es sei zwar egal, ob dieser dann "weiß, gelb oder grün" ist. "Balotelli hat in den letzten Jahren aber gezeigt, dass ihm die Bescheidenheit fehlt, um die Unterstützung der Italiener zu erhalten." Maurizio Martina von der Partito Democratico war da anderer Ansicht: "Wir brauchen eine Stimme wie seine, um auf Missstände und Herausforderungen aufmerksam zu machen."

Am Ende spielte Bonucci bei der 1:3-Testspielniederlage gegen Frankreich zwar doch, Balotelli reagierte nach der Partie aber genauso besonnen wie bestimmt auf die Politisierung seiner Person. "Ein Vorbild muss nicht unbedingt die Binde tragen, aber es wäre ein wichtiges Signal für alle Migranten in Italien gewesen, jemanden mit afrikanischen Wurzeln als Kapitän zu sehen", sagte er. "Italien ist leider anders als Länder wie England oder Frankreich, in denen so was einfach normal ist."

Zumindest alle vier Jahre steht das Land hinter seiner Mannschaft

Italien war immer schon ein tief zerrissenes Land, getrennt in Nord und Süd, in Katholiken und Kommunisten, in einzelne Regionen und neuerdings auch in die Lager der fanatischen Nationalisten und der überzeugten Europäer. Das gilt auch für den Calcio. Die Leidenschaft der Anhänger für ihre Clubs speist sich zu großen Teilen aus der unerbittlichen Rivalität zu den anderen. Alle vier Jahre jedoch weht für gewöhnlich ein Wind der Versöhnung durch das Land, der sowohl die gesellschaftlichen als auch die sportlichen Widersacher für einen kurzen Augenblick vereinen kann. Gemeinsam schmettern sie dann ihre Nationalhymne Fratelli d’Italia (Brüder Italiens), und plötzlich scheinen die Gräben gar nicht mehr so groß, sondern irgendwie überbrückbar. Es ist Weltmeisterschaft. 

Manchmal wirkt es dann beinahe so, als hätte der britische Universalhistoriker Eric Hobsbawm explizit an Italien gedacht, als er formulierte, was "den Sport als Medium der Vermittlung einer nationalen Gesinnung so unerhört wirksam" macht: "Die vorgestellte Gemeinschaft von Millionen scheint sich zu verwirklichen als eine Mannschaft aus elf Spielern, die alle einen Namen tragen", schrieb er in seinem politikwissenschaftlichen Standardwerk Nationen und Nationalismus. "Der einzelne, und wenn er nur die Spieler anfeuert, wird selbst zu einem Symbol der Nation."

Hobsbawm versteht den Sport hier nicht als Ausdruck einer identitären Bewegung, sondern als ein verbindendes Gefühl über alle Schichten und Milieus hinweg. Das funktionierte bei der Squadra Azzurra lange Zeit besonders gut, weil sie die Sehnsüchte der Bevölkerung berührte. Sie wurde geführt von Gentlemen wie Paolo Maldini oder Franco Baresi, war eine über die Landesgrenzen hinaus respektierte Einheit und als viermaliger Weltmeister überaus glanzvoll und erfolgreich. Inzwischen hat der italienische Fußballverband nach einem Wahldebakel nur einen kommissarischen Präsidenten und steuert einer ungewissen Zukunft entgegen. Der neue Commissario tecnico Roberto Mancini war nach zahlreichen Absagen bestenfalls dritte Wahl, in der Nazionale geht es plötzlich um das Thema Migration. Die Italiener fühlen sich an das aufgeheizte Klima im Land erinnert und wenden sich entnervt ab. Zum Länderspiel gegen die Niederlande am vergangenen Montag in Turin kamen gerade einmal 20.000 Zuschauer. Aufbruchstimmung sieht anders aus. 

Auch früher hatte die Squadra Azzurra natürlich kein einziges Problem im Land lösen können. Sie schuf aber immer wieder gemeinsame Erinnerungen in schwierigen Zeiten. Als Fabio Cannavaro 2006 den WM-Pokal in den Berliner Nachthimmel streckte, da war in der Heimat gerade der Calciopoli-Manipulationsskandal aufgedeckt worden, der die Tifosi wenig später bis ins Mark erschüttern sollte. Den meisten Italienern kommt bei der Jahreszahl 1994 automatisch der tragisch verschossene Elfmeter von Roberto Baggio im WM-Finale gegen Brasilien in den Sinn – nicht das Ende der Ersten Republik. Damals wurde Silvio Berlusconi zum ersten Mal Ministerpräsident, vorausgegangen waren Korruption, Amtsmissbrauch und in der Folge der Zerfall der klassischen Parteienlandschaft.

Ohne das Gefühl eines gemeinsamen Siegs oder auch einer gemeinsamen Niederlage, so empfinden das viele Italiener, fällt nun der beste Grund weg, um den anderen einfach mal in den Arm zu nehmen. Eine kleine Annäherung, losgelöst von der Frage, wer denn nun die Kapitänsbinde trägt. Dabei sein wäre vielleicht schon alles gewesen. 

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