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Der vermurkste Kapitalismus

von Guido Palazzo und Thomas Beschorner

In Ernest Hemingways Roman The Sun Also Rises wird ein Protagonist gefragt, wie er denn bankrottgegangen sei. "Auf zwei Arten", antwortet der Gefragte. "Erst allmählich, dann plötzlich." Durch die Übernahme von durch Elon Musk könnte sich eine weitere Episode in ein wirtschaftshistorisches Genre einreihen, das man als die narzisstische Zerstörung eines Unternehmens bezeichnen könnte. Dieser Form des vermurksten Kapitalismus, der üblen Unternehmensführung schenken wir aber bislang akademisch wie gesellschaftlich zu wenig Beachtung.

Elon hakt (bei Twitter und auch bei anderen Unternehmen) so ziemlich jedes mögliche Kriterium ab, das man als Unternehmen in einem rohen kapitalistischen System abhaken kann, um als gesellschaftlich zerstörerisch und menschenverachtend zu geltend: die Etablierung einer Unternehmenskultur des Schweigens, die Vernachlässigung von Sicherheitsstandards, die Ausrufung von unrealistischen Unternehmenszielen, ein schwieriges bis arrogantes Verhalten und Verhältnis zu Regularien und behördlichen Anordnungen, ein Führungsstil, der die Mitarbeitenden als bloße Produktionsfaktoren betrachtet - und noch einiges mehr.

Prototypen des rohen Kapitalismus

Twitter und der Unternehmer Musk reihen sich mit vielfältigen unmoralischen Praktiken ein, in eine sehr lange Liste von unternehmerischen Verfehlungen: Manche Unternehmen haben Probleme mit der Hardware und finden Softwarelösungen, die dann dramatisch schiefgehen. Volkswagens "Dieselgate" und die Boeing-737-Max-Abstürze sind Beispiele dafür. Die Firma Theranos um die Unternehmerin Elisabeth Holms, das angeblich ein revolutionäres Gerät für Bluttests entwickelt haben wollte, entpuppte sich als Märchenstunde und milliardenschwerer Bluff. Bei wieder anderen Unternehmen beruhen sensationelle Umsätze darauf, dass Tausende Beschäftigte im Verkauf ihre Kunden betrogen (Wells Fargo) während andere gleich ohne Umweg über das Verkaufspersonal fabelhafte Umsätze erfinden ( Wirecard).

Bei France Telecom endet die Privatisierung mit über 100 Suiziden und Suizidversuchen in nur drei Jahren. Es gibt noch das Pharmaunternehmen Purdue, das ein dem Heroin-verwandtes Schmerzmittel vermarktete wie Gummibärchen und vor allem in den eine Epidemie mit mittlerweile fast einer Million Opfern verursachte. Übrigens mit der Hilfe eines anderen Unternehmens: McKinsey. Und wieder andere Firmen stehen in der Kritik, weil sexuelle Belästigung zu den herausragenden Merkmalen der Unternehmenskultur zählt (Uber).

Dies sind nur einige wenige Beispiele, die uns aufmerken lassen sollten, ob es sich bei der üblichen Rede von "Unternehmensskandalen", von Einzelfällen von einer abweichenden Norm um die richtige Pointierung des Problemkomplexes handelt. Der kanadische Management-Professor Henry Mintzberg verfasste im Zusammenhang mit dem Dieselgate von Volkswagen einen Beitrag mit dem prägnanten Titel " Don't call it a scandal". Es ist kein Skandal, so der Einwurf, sondern ein Syndrom für kapitalistische Wirtschaftsweisen per se. Wahnsinn, aber eben Wahnsinn mit Methode, könnte man sagen. Und Mintzberg notiert weiter: "Man darf erwarten, dass es schlimmer wird, weil wir in einer Welt leben, in der der Raubtierkapitalismus triumphiert."

Kriminelle und unmoralische Praktiken von Unternehmen kosten Menschenleben, sie erzeugen oft großes Leiden bei Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen oder bei Kundinnen und Kunden. Und sie sind richtig teuer. Manche Unternehmen stürzen in sich zusammen, wie Theranos, Enron oder Wirecard. Andere kämpfen mit Folgekosten zwischen 40 und 60 Milliarden, wie Volkswagen, und Wells Fargo. In diesen Beträgen nicht eingerechnet sind Kosten für das Aufräumen eines Scherbenhaufens, den die systematisch toxisch angelegte Unternehmenskultur hinterlassen hat.

Hinterher ist man immer schlauer, man hat es ja nicht wissen können! Genau von dieser Mär sollten wir uns verabschieden, denn die hier nur umrissenen (und vielen anderen) Beispiele haben einen gemeinsamen Kern, der eben nicht auf die Zufälligkeit von Einzelfällen und nur die Verfehlung Einzelner deutet, sondern von systematischer Natur ist. Es gibt nämlich ein Set von Warnsignalen, die jede Organisation alarmieren sollten, will sie nicht in einem Morast von Unmoralität versinken.

Warnsignale für den Murks

Elon Musk lädt uns in diesen Wochen live und in blauer Farbe zu Beobachtungen einer hässlichen kapitalistischen Fratze ein, die in seiner Art der Unternehmensführung systematisch angelegt zu sein scheinen. Fünf exemplarische Warnsignale – wie wir sie auch von anderen Fällen ebenso wie von Musks Unternehmen kennen – sollen hier folgen:

Kultur des Schweigens. Bei Tesla wurden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Probleme öffentlich gemacht hatten, entlassen. John Bernal wurde gefeuert, weil er ein Video veröffentlicht hatte, in dem technische Herausforderungen bei der Software des Autopiloten zu erkennen waren. Ähnlich ging es Arbeitern, die eine Gewerkschaft bei Tesla gründen wollten, und einem Manager bei SpaceX, der Kollegen eine kritische E-Mail zu Elon Musks öffentlichem Auftreten schickte. Bei Twitter setzt Musk jetzt diese Tradition fort und wirft diejenigen raus, die ihm intern oder öffentlich widersprechen. Zusätzlich ruft er ihnen über seinen eigenen Twitter-Account noch Beleidigungen hinterher.

Unrealistische Ziele. Wer bei Google nach der Kombination "Tesla, unrealistic targets" (Tesla, unrealistische Ziele) sucht, wird überschwemmt mit Artikeln vom Wall Street Journal über Fortune bis hin zum Guardian, die alle immer wieder darauf hinweisen, dass Musk für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ziele formuliert und Deadlines vorgibt, die nicht erreicht werden können. Für die Berichte werden einerseits externe Experten befragt, andererseits anonyme Quellen aus dem Unternehmen zitiert, die darauf hinweisen, dass nicht nur die gesetzten Ziele unrealistisch sind, sondern dass es oft auch gar keinen Plan zur Erreichung der Ziele gibt. Gleichzeitig ist Musk als aggressiver Micromanager bekannt. Bei Twitter kann man live dabei zuschauen, wie er eine ähnliche Kultur etabliert. In einer E-Mail an alle Beschäftigten gab er ihnen die Wahl: Entweder sie sind bereit, sich einer, wie er schreibt, "extreme hardcore" Arbeitskultur zu unterwerfen oder sie sollen gehen. Viele der bei Twitter arbeitenden Ingenieure aber halten sich mit einem prekären H-1-B-Visum in den USA auf. Sie haben also die Wahl zwischen den Arbeitsbedingungen von Musk oder der Ausweisung aus den USA nach 60 Tagen ohne Arbeitgeber.

Vernachlässigung von Sicherheit. 2018 wurde Musk vorgeworfen, seine Ingenieure angewiesen zu haben, einen wichtigen Bremsentest bei der Produktion des Tesla 3 nicht durchzuführen. Gleichzeitig wurde dem Unternehmen angelastet, mit Qualitätsproblemen in der Produktion zu kämpfen – eine gefährliche Kombination. Tesla wurde für Unfälle der S- und X-Modelle verklagt und interne Dokumente weisen darauf hin, dass das Unternehmen schon länger von Problemen, unter anderem mit dem Lenkrad, wusste. Vor allem Business Insider, eine auf Wirtschaftsinformationen spezialisierte Webseite, berichtet seit einigen Jahren über die derartige Kombination aus Produktions-, Qualitäts- und Sicherheitsproblemen.

Bei Twitter haben die jeweils für Sicherheit und Compliance zuständigen Topmanager das Unternehmen im Tumult der Übernahme durch Musk verlassen. Was die Sicherheit der Plattform betrifft, so vergleicht ein früherer Twitter-Ingenieur die Situation mit der Looney-Tunes-Zeichentrickfigur Wile E. Coyote, die über den Abgrund hinweg noch eine Zeit lang in der Luft weiter rennt und dann abrupt abstürzt.

Sexuelle Belästigung und Rassismus. Sowohl bei Tesla als auch bei SpaceX gibt es Probleme mit einer frauenfeindlichen und rassistischen Führungskultur. Zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben Tesla verklagt. In einem Fall musste das Unternehmen einem schwarzen Mitarbeiter 137 Millionen Dollar Schadensersatz zahlen, unter anderem weil die Rassismusprobleme vom Tesla systematisch ignoriert wurden. Wie die Skandale bei Uber und Activision Blizzard jüngst gezeigt haben, sind Probleme mit sexueller Belästigung und Rassismus in der Regel das Resultat aggressiver Unternehmenskulturen. Die angekündigte hardcore Arbeitskultur bei Twitter lässt auch in dieser Hinsicht nichts Gutes erwarten.

Schwieriges Verhältnis zu Gesetzen und Behörden. Bei Tesla liegen vielfältige Strafzahlungen, Rechtsbrüche und Settlements mit Behörden vor. Was die Lektüre der zahlreichen Rechtsstreitigkeiten von Musk und Tesla vor allem zeigt, ist, dass für Musk Regeln eine Art Innovationshindernis sind. Die rechtlich zweifelhaften Massenentlassungen, die er gleich zu Beginn bei Twitter durchsetzte, sind dabei nur das jüngste Beispiel. Im Grunde sind alle Entscheidungen, die man jetzt bei Twitter beobachten kann, konsistent mit dem Führungsstil, den Musk auch bei seinen anderen Unternehmen anwendet. Andere Menschen und deren Interessen spielen dabei in der Regel keine besondere Rolle. Gesetzesbrüche sind eingepreist. Wer Raketen ins All schießt, der hat keine Angst vor Aufsichtsbehörden, verkündete Elon Musks Anwalt in diesen Tagen. Vor dem Verlassen des Unternehmens hat ein Mitglied des Twitter-Sicherheitsteams über die interne Kommunikation an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine Nachricht mit einem Link zur Plattform der US-Regierung verschickt, auf der anonyme Whistleblower Gesetzesbrüche ihres Arbeitgebers melden können. Ein Wink mit dem Zaunpfahl.

Wir wissen nicht, ob der neue Wirt bei Twitter die Rechnung ohne den Gast gemacht hat und die Firma und das Imperium Musk deshalb "erst allmählich, dann plötzlich" pleitegehen werden. Wesentlicher erscheint uns die Charakterisierung des Prototyps eines rohen Kapitalismus; ein Murks, der gesellschaftlich nicht toleriert werden sollte.
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