Wenn Siegbert Ochsenschläger etwas anpackt, dann richtig. Sein Hof im südhessischen Wattenheim soll keine Fabrik für nur ein einziges Produkt sein. Ein "kompletter Bauer" will er sein. Zu viele seiner Kollegen machen sich zu Sklaven der Industrie, findet er: "Welcher Bauer isst denn noch sein eigenes Brot?" In Ochsenschlägers "Hoflädchen" stehen Nudeln aus dem eigenen Urgetreide, Hausmacher Wurst und bunte Brotaufstriche im Regal - vieles ist selbst verarbeitet.
An einer langen Girlande in der Scheune hängen noch mehr Früchte seiner Arbeit. Erntedank: verschiedene Rote Beete, drei Sorten bunter Mais, Chili aus dem Baskenland, und die Gniff-Karotte, auf die er besonders stolz ist. Seine anderen Schätze stehen darunter auf einer Bank, 15 an der Zahl: Die Rote Emma neben der Linda, ganz hinten die Adretta. Wenn er von seiner Allerliebsten spricht, dann funkeln seine Augen: "Die fühlt sich einfach toll an, wenn man so ein bisschen über die Schale streichelt. Ganz rau", sagt Ochsenschläger und legt die Kartoffel zurück in die Kiste, auf der "Golden Wonder" steht.
Über 4000 Kartoffelsorten sind weltweit bekannt. Wer im Supermarkt einkauft, wird aber kaum mit mehr als einer Handvoll von ihnen Bekanntschaft machen. Ochsenschläger ist einer der wenigen Landwirte, die sich die alten "Liebhabersorten" noch leisten, bedauert Jutta Kling vom Kompetenzzentrum Ökologischer Landbau Rheinland-Pfalz. Denn oft bringen alte Sorten weniger Ertrag als ihre formschönen ovalen Schwestern aus neuer Züchtung. Vor allem sind sie aber nicht geeignet für die industrielle Weiterverarbeitung, weshalb sie vom Markt verdrängt werden. Eine Entwicklung, die indes auch beim Mais, bei Äpfeln oder Birnen zu beobachten ist.
"Wie können wir uns bei unserer Ernährung bloß auf den Anbau so weniger Klone verlassen? Das ist gefährlich", findet der italienische Botaniker Stefano Mancuso. Mit seinem Buch "Die Intelligenz der Pflanzen" machte er 2015 Schlagzeilen. Die Vielfalt stärkt die Abwehrkräfte der Natur, so Mancuso. Bauer Ochsenschläger kann das bestätigen: Pro Hektar kann er zwar weniger ernten, hat aber deutlich weniger Ärger mit Würmern in seinen Kartoffeln.
Zum Erhalt der genetischen Vielfalt unserer Nutzpflanzen hat die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) eine eigene Kommission gegründet. Doch vielen Verbrauchern ist das Problem noch kaum bewusst. Darum zogen Aktivisten der Initiative Slow Food Ende September mit Musik durch Turin. 7000 Demonstranten riefen ihre Parolen in den klaren Nachthimmel der norditalienischen Stadt. Das internationale Netzwerk will die Kultur des Essens und Trinkens lebendig halten. Deshalb trafen in Turin Tierzüchter auf Köche, Konsumenten auf Bäckermeister und junge Winzer. "Wir lieben die Erde" und "Save Biodiversity" stand auf ihren Schildern.
Ein Delegierter der deutschen Slow Food-Szene war Paul Novik, der gerade sein Ökolandbau-Studium abgeschlossen hat. Der Karlsruher findet, der Kampf für eine bessere, gerechtere Ernährung muss nicht nur im Globalen Süden ausgefochten werden, sondern auch vor unserer Haustür. "Die Leute wissen nicht mehr, wie gutes Brot schmeckt", empört sich der 26-Jährige. Die Industrialisierung vom Weizenanbau bis zur Produktion von Teiglingen, die der Bäcker fertig in den Ofen schiebt, ist auch Slow Food-Gründer Carlo Petrini ein Dorn im Auge. Er fördert die biologische Vielfalt mit seinem Projekt "Arche des Geschmacks". Es soll einmal ein Rettungsboot für 10.000 bedrohte pflanzliche und tierische Produkte sein. Für Petrini ist klar, dass das Problem nur von Bauern und Verbrauchern gemeinsam gelöst werden kann. Samenbanken und Saatgut-Initiativen seien wichtig, so der Italiener, aber es reiche nicht, nur die Genotypen zu konservieren: "Eine Sorte muss auch ökonomisch gestutzt werden", sprich: Sie muss konsumiert werden. Doch ohne Vermarktungsmöglichkeit gibt es keinen Anreiz für Bauern, alte Sorten anzubauen. Letztendlich bestimmt der Käufer, was angepflanzt wird.
"Essen ist ein politischer Akt", sagen deshalb Agrarwissenschaftler wie Miguel Altieri. Der Chilene erforscht Alternativen in der Landwirtschaft. Nur sie werden die Welt auch noch in Jahrzehnten ernähren können, ist der Professor an der Uni Berkely überzeugt. Auch ihm geht es darum, Techniken zu finden, die gleichzeitig eine gute Ernte erzielen und die Ressourcen schonen. Anstatt die Felder des Globalen Südens in Monokulturen zu verwandeln, will Altieri Kleinbauern mit traditionellen Techniken unterstützen. Sie produzieren 70 Prozent der Nahrung für die Welt - auf nicht einmal 20 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche.
Altieris Ansatz fristet allerdings ein Nischendasein. Labortests über Pestizidrückstände und Versuche mit synthetischen Düngern dominieren die Wissenschaft. NPK lautet die Zauberformel: Mit Stickstoff, Phosphor und Kalium werden Böden künstlich fruchtbar gehalten. Seit Jahrzehnten rühmt sich die Industrie, so den Hunger auf der Welt besiegt zu haben. Aber Altieri glaubt nicht an die Lösungen der Agrarkonzerne. Eine Studie des französischen Forschungsinstituts Inra zeigt, dass die Mischkultur von vielen Feldfrüchten auf engem Raum produktiver ist, als zum Beispiel der reine Anbau von Salat.
Slow Food-Gründer Petrini sieht im industriell vorgefertigten Geschmack auch einen kulturellen Verlust. Er prangert die Großkonzerne dafür an, dem Bürger ein ungesundes Geschmacksverhalten anzuerziehen. "Wenn wir unsere Kinder an einen süßen Synthetikgeschmack gewöhnen, werden sie als Erwachsene alles Bittere kaum noch schätzen können", schreibt er in seinem Buch "Die Wurzeln des guten Geschmacks". Deshalb liegt dem Aktivisten die "regionale Geschmacksvielfalt" genauso am Herzen wie die Vielfalt auf dem Acker.
Um seine Kartoffeln bekannter zu machen, hat Bauer Ochsenschläger zur Kartoffel-Verkostung geladen. Er stibitzt eine winzige Kartoffel aus dem riesigen Topf, in dem verschiedene Sorten im Wasserdampf garen, während seine Frau Dagmar am großen Tisch in der Scheune die erste Knolle serviert. Das "Bamberger Hörnchen" ist der einsame Star auf dem Teller. Als Beilage spielt die Kartoffel selten die Hauptrolle, aber hier wird von den Teilnehmern ihre zarte Schale bewundert: "Hmmm, die zergeht ja auf der Zunge. Schmeckt ein bisschen nussig, wie Maronen." An die Wand in der Scheune hat Ochsenschläger in großen, geschwungenen Lettern Zitate von Goethe und anderen Dichtern gepinselt: "Die Welt gehört dem, der sie genießt." Und damit dieser Genuss auch andauert, wirtschaftet Ochsenschläger lieber nachhaltig. So können auch seine Kinder noch das Wunder alter Kartoffeln erleben.
erschienen im Magazin der RNZ vom 05. November 2016
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