Mit 15 Jahren wird Paula Freese so krank, dass sie eine neue Leber braucht. Über ein Jahr wartet sie vergebens auf ein Fremdorgan, bis klar wird: Ihr Vater könnte ihr das Leben retten.
Als der Arzt zur Visite kam, verstand Paula Freese sofort, dass er etwas Schweres mitzuteilen hatte. „Morgen möchte ich gern die Ergebnisse besprechen", sagte er, „da sollten deine Eltern dabei sein." Paula war zu dem Zeitpunkt 15, sie war mit starkem Untergewicht ins Krankenhaus gekommen. Bei einer Größe von 1,52 Metern wog sie nur noch 36 Kilo. Jeder Schultag war für die Gymnasiastin ein Kraftakt, manchmal döste sie mitten im Unterricht ein. Als sie ein Kleinkind war, hatte man bei Paula eine chronische Gallenwegsentzündung diagnostiziert. Über die Jahre hatte sie davon kaum noch etwas gemerkt. Doch dann meldete sich die Krankheit zurück.
Als ihr Vater und ihre Mutter am nächsten Tag neben Paula saßen, eröffnete ihnen der Arzt, dass Paula eine Leberzirrhose hatte. Dabei stirbt gesundes, funktionsfähiges Lebergewebe ab und wird durch funktionsloses Bindegewebe ersetzt. Die Leber verhärtet und vernarbt und kann ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Betroffene sind oft müde und verlieren Gewicht. Bei Paula hatte vermutlich die Krankheit aus der Kindheit zu dieser Entwicklung geführt, und jetzt stand fest, dass Paula eine neue Leber brauchte.
„Darauf vorbereitet war ich wirklich gar nicht", erinnert sie sich. „Es war ein Schock, wobei man erst mal gar nicht begreift, was das jetzt bedeuten soll." Paula ist eine kleine, zierliche Person. Ihre dichten, dunkelbraunen Haare reichen bis weit über die Schultern. Die dunkle Brille mit dem dicken Rand kontrastiert mit ihren zarten Gesichtszügen. Inzwischen ist Paula 17, aber wenn man sich mit ihr unterhält, wirkt sie älter. Jeder Satz ist überlegt, und wenn sie Details ihrer Krankheit erklärt, klingt sie fast wie eine Medizinstudentin.
Warten auf den entscheidenden Anruf
Nach der Diagnose Leberzirrhose mussten die Ärzte schnell handeln. Paula wurde aus Stuttgart ans Universitätsklinikum Tübingen überwiesen. Da sie gerade noch einen Monat lang 15 war, sollte sie so bald wie möglich auf die Transplantationsliste kommen. Mit 15 gilt man noch als Kind und wird bevorzugt behandelt. Als das geschafft war, begann für Paula und ihre Familie eine lange Zeit des Wartens. Auf der Warteliste für eine Organtransplantation zu stehen bedeutet, in ständiger Habachtstellung zu sein: Jeden Tag könnte der entscheidende Anruf kommen. Die Klinik riet Paulas Familie, nicht weiter als 400 Kilometer zu verreisen. Sobald ein passendes Organ für Paula gefunden sein würde, sollte sie innerhalb weniger Stunden in die Klinik kommen können.
Über die Sommerferien verbesserte sich Paulas Zustand deutlich, zum Schulanfang ging sie wie geplant in die 12. Klasse des Gymnasiums. Je besser sie sich fühlte, desto schlechter wurden jedoch ihre Aussichten auf ein Spenderorgan. Denn die Warteliste funktioniert so: Je schlechter es einem geht, desto eher bekommt man ein Organ - vorausgesetzt, man ist noch fit genug für eine Operation. „Wir haben über ein Jahr auf eine Leber gewartet, und es ist nichts passiert, nicht ein Angebot, nicht ein Anruf, gar nichts", erzählt Paulas Mutter, Jana Freese. „Am Anfang haben wir richtig drauf gewartet, dass jemand anruft", sagt auch Paula, „aber irgendwann hört das auf." Wenn sie über ihre Krankheit spricht, sagt sie nie „ich", sondern immer „wir". Die Familie ist in der Zeit noch enger zusammengerückt.
Als Paula und ihre Eltern kaum noch damit rechneten, ein Spenderorgan zu bekommen, brachten die Ärzte eine weitere Möglichkeit ins Spiel: Ein naher Verwandter könnte ihr eine sogenannte Lebendleberspende geben, also einen Teil seiner eigenen Leber. Die Blutgruppen von Paula und ihrem Vater stimmten überein.
„Sorge um das eigene Leben hatte ich nicht"
Ekkehard Sturm leitet am Uniklinikum Tübingen die Arbeitsgruppe Kindergastroenterologie und koordiniert das Lebertransplantationsprogramm bei Kindern. Er erinnert sich noch gut daran, wie er mit Paula und ihrem Vater zum ersten Mal über die Lebendleberspende sprach. Selten hat er einen so entschlossenen Mann vor sich sitzen gehabt wie Robert Freese: „Er hatte, glaube ich, keinen Zweifel." Sturm betont, dass das nicht selbstverständlich sei. Er habe auch schon Eltern kennengelernt, die sich gegen eine solche Operation entschieden. Es sei immer wichtig, die Situation der Familie genau anzuschauen und differenzierte Gespräche zu führen.
Robert Freese, 39, sitzt in Jeans und T-Shirt neben Paula auf der großen braunen Eckcouch im Wohnzimmer, als er von der Zeit damals erzählt. Er ist ein lockerer Typ, lacht viel und hat vor allem Spaß daran, Paula zum Lachen zu bringen. „Ab dem Zeitpunkt, als klarwurde, dass das mit der Lebendspende funktionieren würde, konnte ich schon deutlich ruhiger leben", sagt er. „Sorge um das eigene Leben hatte ich nicht."
Diejenige, die sich Gedanken machte, war Paula. Oft hat sie sich gefragt, ob sie von ihrem Vater zu viel verlangt. „Einfach, weil es ja ein Risiko ist", sagt sie, „weil er dann genau so eine OP durchstehen muss wie ich, obwohl er gesund ist." Letztlich hat die Zuversicht ihres Vaters sie überzeugt, der Operation zuzustimmen, auch wenn er ihr die Sorgen nicht ganz nehmen konnte. „Wenn irgendwas passiert wäre, hätte ich mir auf jeden Fall mein Leben lang Vorwürfe gemacht", sagt Paula.
Bei einer Lebendleberspende wird ein Leberteilstück von einem lebenden Menschen einem anderen Menschen eingesetzt. Auf lange Sicht fehlt dem Spender dadurch nichts, denn die Leber wächst nach, bis sie nahezu ihr Ausgangsvolumen wieder erreicht hat. Dennoch ist es für den Spender ein großer Eingriff. Wie bei jeder Operation kann es zu Komplikationen kommen. Engmaschige Kontrollen nach der Operation sollen bleibende Schäden verhindern.
Oft kommt ein Elternteil als Spender in Frage
Das Risiko, an den Folgen der Operation zu sterben, ist jedoch gering und liegt mittlerweile unter 0,01 Prozent. Wer eine solche Spende machen darf, ist im Transplantationsgesetz genau geregelt. Es müssen Verwandte ersten oder zweiten Grades sein, Ehepartner kommen in Frage oder Personen, die nachweisen können, dass sie dem Empfänger persönlich nahestehen. Zudem ist Voraussetzung, dass der Spender volljährig und gesund ist. Wenn Kinder eine Spende benötigen, kommt daher oft ein Elternteil in Frage.
Die Operation, die Sturm und sein Team für Paula und ihren Vater anvisierten, enthielt eine Besonderheit. Die Ärzte wollten nicht nur einen Teil der Leber von Robert Freese verpflanzen, sondern Paula zusätzlich sogenannte mesenchymale Stammzellen ihres Vaters geben. Denn obwohl die Ärzte inzwischen viel Erfahrung mit Lebendlebertransplantationen im Kindesalter haben und sich die Überlebenschancen deutlich verbessert haben, bleibt eine Herausforderung: Damit der Körper das neue Organ nicht abstößt, müssen die Patienten nach der Transplantation Immunsuppressiva einnehmen.
Diese haben jedoch Nebenwirkungen, die die Lebensqualität und die Gesundheit der Empfänger erheblich beeinträchtigen können. „Wir sehen, dass ungefähr 20 bis 25 Prozent der Organe über zehn bis 15 Jahre erheblichen Schaden nehmen können", erklärt Sturm. Im weiteren Verlauf benötigten einige der betroffenen Patienten wieder ein neues Spenderorgan. Durch die Gabe von mesenchymalen Stammzellen soll der Empfänger das fremde Organ besser annehmen. Denn die Zellen können die Immunantwort des Körpers so verändern, dass die Abstoßungsreaktion gegen das transplantierte Organ abgeschwächt wird. Wenn das gelingt, könne man die Immunsuppressiva reduzieren, sagt Sturm. Außerdem hat er die Hoffnung, dass sich so die Lebensdauer der Organe verlängert.
Erst der Abiball, dann der OP-Termin
Bei Kindern und Jugendlichen hat es bisher noch keine Lebendlebertransplantationen unter Gabe mesenchymaler Stammzellen gegeben. Laut dem Uniklinikum Tübingen war Paula die erste Patientin auf der Welt, bei der diese Form der Transplantation durchgeführt wurde. Sie nimmt nun an einer Pilotstudie teil, bei der die Stammzellengabe und ihre Wirkung untersucht werden.
Vor dem großen Eingriff wollte Paula aber noch ihr Abitur machen. Den OP-Termin legte sie auf den Montag nach dem Abiball. Von der Leichtigkeit, die viele junge Menschen in dem Alter trägt, spürte Paula in der Zeit ihrer Krankheit nicht viel. Ausgehen, Partys feiern, Reisepläne für die Zeit nach dem Abi schmieden - bei all dem war sie weitgehend außen vor. Während sich die Welt der anderen weiterdrehte, war Paula wie ausgebremst. Zwei Wochen Krankenhaus, drei Monate krankgeschrieben zu Hause. Als ihr Jahrgang auf Studienfahrt nach Griechenland ging, konnte sie nicht mit. „Ich glaube, das war so ziemlich das, was mich am meisten geärgert hat in dem Moment, als ich erfahren hab, dass ich eine neue Leber brauche", sagt sie.
Paula hat in der Zeit der Krankheit viel mit sich selbst ausgemacht. „Ich glaube, dieses ganze Krankenhausding ist für Außenstehende schwierig zu verstehen", sagt sie. Vor allem am Anfang der Krankheit behielt sie ihre Gedanken und Sorgen für sich. Sie wollte es erst mal für sich begreifen und es dann den anderen erzählen. Über ihre Krankheit und die geplante Transplantation sprach sie dann nur mit engen Freunden, der „Mädels-Clique", wie sie sie nennt. Ihre Mitschüler stellten kaum Fragen.
So, als sei nichts gewesen
Selbst als Paula nach langer Fehlzeit nach den Sommerferien plötzlich wieder im Klassenzimmer saß, verhielten sich die meisten so, als sei nichts gewesen. Ob das nicht verletzend war? Paula trägt es ihnen nicht nach. Sie denkt, dass viele in dem Alter Berührungsängste mit dem Thema Krankheit haben. „Ich glaube, es ist einfach schwer nachvollziehbar", sagt sie. „Und allgemein ist es ja auch so: Man möchte nichts Falsches sagen. Ich glaube, da macht man es sich selbst einfacher, wenn man nicht so viel nachfragt."
Auch sie baute Barrieren auf, scheute Fragen, bei denen sie sich unwohl fühlte. Das Thema Alkohol etwa. Wegen der Leberzirrhose und der erhofften Transplantation sollte sie möglichst keinen Alkohol trinken. Bevor sie das Risiko einging, auf einer Party gefragt zu werden, warum sie nichts trank, ging sie lieber nicht hin. Als Antwort schlicht zu sagen: „Ich stehe auf der Transplantationsliste" wäre ihr komisch vorgekommen. Sie fand nicht, dass das ein Thema für eine Party war.
Die ersten Schritte für die Transplantation musste Robert Freese machen. Einige Wochen davor wurde ihm Knochenmark entnommen, aus dem anschließend die Stammzellen isoliert wurden. Auch am Tag der großen Operation war Robert als Erster dran. Morgens um halb sieben zog er sich die Thrombosestrümpfe an und nahm eine Tablette ein. „Was das für eine Tablette war, habe ich erst im OP-Bereich gemerkt", erzählt er. „Da war ich nämlich auf einmal weg." Paula sitzt neben ihm auf der Couch und lacht. Robert bleibt nur selten ernst, wenn er von der Transplantation erzählt. Er hat nicht nur die Rolle des Spenders inne, sondern auch die des Mutmachers, desjenigen, der Paula immer wieder klarmachte: Du musst dir keine Sorgen machen.
Zwei Teams waren im Einsatz
Die Transplantation bereitete Silvio Nadalin, Chirurg und Leiter des Transplantationszentrums in Tübingen, mit einer Gruppe hochspezialisierter Kollegen vor. Detailliert wurde alles geplant, auch eine 3D-Simulation wurde erstellt. Während der Operation waren zwei Teams im Einsatz, das erste löste aus Robert Freeses Körper den linken Leberlappen heraus, die Operation dauerte viereinhalb Stunden. Dann musste das Teilorgan schnell hinüber in den OP-Saal nebenan, wo ein zweites Team bereits mit Paulas Operation begonnen hatte.
Das ist einer der Vorteile der Lebendleberspende im Vergleich zur postmortalen: Das Organ ist nur kurze Zeit außerhalb des Körpers und damit nur kurz ohne Durchblutung. In einer mehr als siebenstündigen Operation entfernten die Ärzte die kranke Leber aus Paulas Körper und pflanzten ihr den Leberlappen ihres Vaters ein. Während der Operation bekam Paula bereits einen Teil der mesenchymalen Stammzellen ihres Vaters, der zweite Teil wurde ihr zwei Tage später gegeben.
Als Paula wieder zu sich kam, war es schon spät am Abend. Ihren Vater konnte sie nicht treffen, jeder wachte in einem anderen Teil des Klinikkomplexes auf einer Intensivstation auf. Paula war in der Kinderklinik, Robert auf einer Station für Erwachsene. Auf die Frage, ob es nicht schön gewesen wäre, sich direkt nach der OP einmal kurz sehen zu können, reagieren beide gelassen. Keiner von ihnen sei imstande gewesen, aufzustehen, sagen sie. Natürlich war die Transplantation ein gemeinsames Erlebnis. Aber dass es ausgerechnet Paulas Vater war, der ihr einen Teil seiner Leber abgab, verklären sie nicht. Sie betrachten es eher als glücklichen Zufall, dass Robert als Spender in Frage kam und alles so gut geklappt hat.
„Das ist wahre Liebe"
Aus Nadalins Sicht ist das ein Understatement. „Das ist wahre Liebe", sagt der Chirurg. Für ihn sind Spender wie Robert Freese „Helden". Solche großen Worte benutzen die Freeses nicht. Und dennoch betont Robert, dass es für ihn als Vater eine besondere Situation war. „Die Schwangerschaft und die Geburt macht die Frau", sagt er. „Man kommt als Vater dann nicht mehr so dicht ran, wie es die Mutter vorher war. Und so konnte ich wenigstens sagen: Okay, jetzt gebe ich auch noch mal was ab. Ich denke schon, dass das auch enger zusammenschweißt."
Welchen Unterschied es machen wird, dass Paula die Stammzellen ihres Vaters bekommen hat, kann man zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Erst wenn die Ärzte ihre Entwicklung über längere Zeit beobachtet haben, können sie entscheiden, ob Paula im Vergleich zu anderen Patienten die Immunsuppressiva tatsächlich reduzieren kann. Noch nimmt sie die übliche Dosis ein.
Trotz Transplantation hat Paula an ihren wichtigsten Plänen festgehalten. Als ihre Freunde nach dem Abi durch Australien reisten, schaute sie sich zwar sehnsüchtig deren Fotos auf Facebook an. Zunächst dachte sie auch, dass sie durch die Operation im Juli die Einschreibefristen an den Unis verpasst habe. Aber dann tat sich kurz vor Semesterstart doch noch eine Möglichkeit auf. An der Uni Tübingen waren im Fach Rhetorik, das sie schon lange interessiert hatte, noch Plätze frei. Paula meldete sich sofort an. Mit 17, gerade mal drei Monate nach der Transplantation, packte sie ihre Koffer und tauschte ihr Kinderzimmer in der 9000-Einwohner-Gemeinde Plüderhausen bei Stuttgart gegen ein Wohnheimzimmer in Tübingen.
Auch was die Krankheit angeht, schaut sie nach vorn: Bald will sie an einem Programm des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf teilnehmen und sich als Patin ausbilden lassen. Dann wird sie andere junge Menschen bei ihrer Transplantation begleiten und ihnen mit ihrer Erfahrung zur Seite stehen.