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Kurorte in der Krise: Lieber Kreuzfahrt als Kurpark

Zum Flanieren gemacht: Die Hauptallee im niedersächsischen Bad Pyrmont – mit geringer Motorkraft ist sie auch befahrbar.

Ausgerechnet die traditionellen Kurorte verpassen den Boom in der Gesundheitsbranche. Denn immer weniger Aufenthalte werden von den Kassen bezahlt. Bad Pyrmont setzt jetzt auf Schulungen gegen Burn-out statt auf Moorbäder.

Wer mit Dieter Alfter durch Bad Pyrmont läuft, macht eine Zeitreise. Kaum einer kennt die Geschichte des Kurorts so gut wie der ehemalige Leiter des Stadtmuseums. „Die Balkone da oben“, sagt er und deutet in Richtung des Hotels Fürstenhof, „das war alles nur Show. Da stand man, um zu sehen und gesehen zu werden.“ Wenn sich der Hochadel im 18. Jahrhundert nicht gerade auf den Balkonen zur Schau stellte, flanierten die Männer und Frauen die Hauptallee des niedersächsischen Ortes herauf und herunter, immer mit einem Glas Wasser in der Hand. Schon damals kamen die Menschen auch wegen der Sorge um ihre Gesundheit in die Stadt. Das Heilwasser aus den Quellen Pyrmonts sollte entschlacken, das Spazieren die sonst eher trägen Adligen in Bewegung bringen. Doch vor allem kamen sie, um sich zu amüsieren.

Heute kann es selbst an einem warmen Frühlingstag passieren, dass Besucher die Hauptallee für sich alleine haben. Statt Prinzessinnen flanieren dort nur noch Senioren in Gesundheitsschuhen, junge Menschen sind kaum unterwegs. Sie reisen seltener in Kurorte wie Bad Pyrmont, seit es schwieriger geworden ist, eine Kur bezahlt zu bekommen. Für die Heilbäder bedeutet das: Es reicht nicht mehr, nur auf die Kranken zu setzen. Doch um die Gesunden, die Erholungssuchenden, konkurrieren Kurorte mit Wellness-Tempeln auf der grünen Wiese und mit Anbietern von Bergurlauben und Kreuzfahrten. Wie also die Menschen davon überzeugen, dass sie, statt auf der Aida übers Mittelmeer zu schippern, durch den Kurpark spazieren oder ein Moorbad nehmen sollten?


Eine Vision für die Zukunft

Für Bad Pyrmont sah es lange so aus, als müsste man sich diese Frage einfach nicht stellen. Die Stadt hat ihren Ruf als Ort der Heilung und des Vergnügens über die Jahrhunderte aufrechterhalten. Den Zweiten Weltkrieg überstand Bad Pyrmont als Lazarettstadt weitgehend unzerstört. Als die Kur zu einem festen Bestandteil der Krankenkassenleistungen wurde, galt die Zukunft des Staatsbads als gesichert. Dann, in den neunziger Jahren, kamen die Reformen unter Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU), und die Kurorte im ganzen Land stürzten in eine tiefe Krise. Es war nicht mehr so einfach, eine Kur bewilligt zu bekommen, die Aufenthaltsdauer wurde verkürzt, und die Kranken mussten mehr zuzahlen. Einzig die Küstenstädtchen blieben von der Kurkrise verschont: Dort stiegen die Übernachtungszahlen seit Ende der Neunziger sogar an (siehe Grafik rechts). Die Orte profitierten vom Meer, die in Mecklenburg-Vorpommern zusätzlich vom Aufbau Ost.

Für Bad Pyrmont, weit weg von jedem Strand, war die Gesundheitsreform aber verheerend: Innerhalb von nur einem Jahr, zwischen 1996 und 1997, sank die Zahl der Übernachtungen von mehr als 900.000 auf rund 650.000. Plötzlich blieben viele Betten leer, Hotels und Geschäfte mussten schließen.

Seitdem hat sich die Stadt aufgerappelt und sich, zumindest im Zentrum, auch wieder herausgeputzt. Die neoklassizistische Wandelhalle am Fuß der Hauptallee erinnerte in den Neunzigern eher an eine Bahnhofshalle. Jetzt ist sie renoviert, die türkisfarbene Kuppel blitzsauber, die weißen Säulen strahlen. Auf dem Platz davor wecken Palmen in großen Holzkübeln Urlaubsgefühle. Vor den Restaurants entlang der Allee rücken die Kellner Tische und Stühle zurecht. Doch ein freundlicher Empfang allein reicht nicht, um den Ort aus dem Besuchertief zu holen. Die Übernachtungszahlen sind seit Ende der Neunziger zwar wieder leicht gestiegen. Aber die guten Werte von früher bleiben unerreicht. Jetzt müssen neue Konzepte her, der Kurort braucht eine Vision für die Zukunft.

„Die Menschen werden in ihren Berufen immer mehr gefordert“

Wie die aussehen soll, davon haben sie in Bad Pyrmont ganz unterschiedliche Vorstellungen. Alfter, der ehemalige Museumsleiter, glaubt, dass die Stadt sich auf das besinnen sollte, was sie groß gemacht hat: das Wasser. „Man sollte das Urgeschäft wieder in den Mittelpunkt stellen“, sagt er. Bad Pyrmont besitzt sieben Heilquellen, die unter anderem Sole und Eisen enthalten. Doch kommen die Menschen heute noch allein wegen des Wassers? Der 66 Jahre alte Alfter ist kein rückwärtsgewandter Mann, im Gegenteil: Mit seiner roten, runden Hornbrille und der Umhängetasche könnte er auch in einem Berliner Szeneviertel wohnen. Doch manchmal klingt er, als könne er einfach nicht fassen, dass das Staatsbad mit seinen Heilquellen dermaßen an Bedeutung verloren hat.

Das Land Niedersachsen glaubt nicht allein an die Magie des Wassers, sondern auch an die Schönheit schwarzer Zahlen. 2015 hat die Regierung einen Mann an die Spitze des Staatsbads gestellt, der sich damit auskennt: Maik Fischer, seither Kurdirektor von Bad Pyrmont, war lange für einen Pharma-Großhändler tätig. Er hat in Prag, Budapest, Wien und Bratislava gearbeitet. Jetzt will er den Kurort zwischen Bielefeld und Hildesheim in eine neue Zeit führen. Und er hat dabei ganz andere Pläne als die Traditionalisten im Ort.

Fischer, 45 Jahre alt, ist ein schlanker Mann mit blassem Teint. Bei denen, die er in sein Büro einlädt, entschuldigt er sich erst einmal. Der massive Holzschreibtisch, der nicht höhenverstellbar ist, die unergonomischen Stühle - all das findet er nicht gerade fortschrittlich. „Wir sollen als Staatsbad eigentlich ja Vorbild sein“, sagt er. „Aber das wird hier auch noch anders werden.“ Fischer möchte Bad Pyrmont umkrempeln. Ein Begriff, der in seinen Plänen oft vorkommt, heißt „betriebliches Gesundheitsmanagement“, kurz BGM. Er will das, was der Kurort zu bieten hat - die Kliniken, Ärzte, Physiotherapeuten - in einer Art Kompetenzzentrum bündeln. Darauf soll nicht nur Bad Pyrmont, sondern die ganze Region zurückgreifen. „Die Menschen werden in ihren Berufen immer mehr gefordert“, sagt er. Das könne man nicht ändern. „Aber man kann die eigenen Ressourcen stärken.“

Wie umgehen mit dem Leerstand?

Mit dem Elektrokonzern Phoenix Contact, dem größten Unternehmen in Bad Pyrmont, arbeitet das Staatsbad schon zusammen. Auch der Flugzeughersteller Airbus schickt vom Standort Hamburg aus Mitarbeiter in die Kurstadt. Jetzt will Fischer die kleinen und mittelständischen Betriebe aus der Region für eine Zusammenarbeit gewinnen. Rückenwind gibt ihm das neue Präventionsgesetz, das seit diesem Jahr gilt. Damit soll unter anderem die Gesundheitsförderung in Betrieben gestärkt werden. Die Krankenkassen sollen ihre Leistungen dafür nach dem Willen des Gesetzgebers deutlich erhöhen und mit den Unternehmen an einem Strang ziehen.

Kurdirektor Fischer, der sonst eher reserviert ist, kommt richtig in Fahrt, als er davon erzählt. „Die Krankenkassen stellen schon BGM-Berater ein“, sagt er, und weiter: „Sie werden Partner brauchen.“ Hier sieht Fischer eine große Chance für das Staatsbad. Er hat eine neue Stelle ausgeschrieben: Ein Gesundheitsmanager soll künftig mit Kassen und Betrieben neue Programme entwerfen.

Aber Fischer kümmert sich nicht nur um die Gesundheit seiner Kurgäste. Er stellt sich auch Fragen zur Stadtplanung: Wie umgehen mit dem Leerstand und den gefährdeten kleineren Hotels in der Stadt? Bestandsmanagement, lautet seine Antwort. Wenn die Besitzer in Rente gingen und kein Nachfolger in Sicht sei, müsse die Stadt frühzeitig helfen - dort, wo es sich lohne. Er kann sich auch vorstellen, Gebäude umzuwidmen und zum Beispiel altersgerechte Wohnungen zu bauen, „hochwertig, barrierefrei“.

„Gesundheit ist ein Megatrend“

Seit die Kurorte sich auf dem Markt durchsetzen müssen, ist das Knowhow von Leuten, die sich in der freien Wirtschaft auskennen, gefragt - nicht nur in Bad Pyrmont. Das Beratungsunternehmen Project M analysiert seit 15 Jahren die Situation der Kurorte in Deutschland und berät diejenigen, die sich neu aufstellen wollen. In einem Report, den das Unternehmen 2011 im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums erstellte, zeichnet Project M ein von der Tendenz her positives, aber dennoch durchwachsenes Bild. Ein Teil der Orte sei für die neuen Herausforderungen im Gesundheitstourismus bereits gut gewappnet. Eine zweite Gruppe sei touristisch allgemein gut aufgestellt, etwa durch die Lage am Meer oder im Gebirge. In einer dritten Gruppe beschreibt der Bericht die Orte, die seit der Krise immer noch straucheln. Sie liegen weder am Meer noch im Gebirge, haben Probleme mit der Infrastruktur und dem Service für ihre Gäste. Sie sind die Sorgenkinder unter den Kurorten Deutschlands.

Viele Krisenjahre können damit enden, dass ein Kurort sein Prädikat verliert. So erging es im vergangenen Jahr etwa dem Kneippheilbad Bad Fallingbostel in Niedersachsen. Badeärzte und Sanatorien fehlten, für die Kneipptherapie kamen nur noch wenige Menschen in die Stadt. Im Moment kämpft Brandenburgs ältester Kurort Bad Freienwalde um sein Prädikat als Moorbad. Aus Sicht des Landes gibt es nicht genug Angebote mit Moor, es fehlen Betten und ein Marketingkonzept. Jetzt wurden dem Ort strenge Auflagen erteilt.

Trotzdem sagt Cornelius Obier, Geschäftsführer von Project M: „Wir bekommen kein Kurortsterben.“ Ein Teil der Orte werde bei dem Tempo und den Anforderungen zwar nicht mithalten können. Dadurch werde der Markt etwas kleiner. Doch er ist überzeugt, dass „ein sehr großer Teil“ der Orte überleben wird und sogar neue Kurbäder hinzukommen werden. Die Strategie, die er den Orten empfiehlt: Spezialisierung, Profilierung und gezielte Vermarktung. Als Vorzeigebeispiele gelten etwa Bad Hindelang im Allgäu oder Bad Salzuflen im Teutoburger Wald, zertifiziert als „allergikerfreundliche Kommunen“. „Gesundheit ist ein Megatrend“, sagt Obier - nur haben eben ausgerechnet die traditionellen Kurorte bislang nicht davon profitiert. In Zukunft würden aber viele ältere Menschen mit allerlei Wehwehchen in den Urlaub fahren. Das sei die Chance der Kurorte.

Früher mehr als 40 Musiker zur Verfügung, heute 14

Während sich alles auf die Zahlen und den Wettbewerb fokussiert, drohen langgehegte Traditionen verlorenzugehen. Vor allem im Kulturbereich wird gespart, ein eigenes Kurorchester leisten sich heute nur noch wenige Orte. Auch in Bad Pyrmont, das immer so stolz auf den Beinamen „Musikbad“ war, hat sich einiges verändert. Der berühmte und inzwischen verstorbene Dirigent Mario Traversa hatte das Pyrmonter Kurorchester von den fünfziger Jahren an zu deutschlandweiter Bekanntheit geführt. Unter ihm spielten die Musiker noch in einer Besetzung, die für ein Salonorchester stattlich war: Geigen, Celli, Kontrabass, mehrere Bläser, Klavier. Heute hört sich Kurmusik anders an.

Um Punkt 10 Uhr erklingen am Dienstagvormittag in der Pyrmonter Wandelhalle die ersten Takte eines Walzers. Im Publikum sitzen in jeder Reihe etwa zwei Zuhörer, alle im Rentenalter, nach den ersten drei Stücken schiebt sich noch ein Mann mit Rollator durch die Tür. Doch hier spielt kein Orchester, es sind vier Musiker. Unten sitzt die Pianistin am Flügel, auf der Bühne steht vorne der erste Geiger, ein großer Mann mit nach hinten gegeltem Haar, links hinter ihm der zweite Geiger. Ein Cello oder einen Kontrabass gibt es nicht. Stattdessen steuert eine Frau am E-Piano die tiefen Töne bei.

György Kovacs gestaltet mit seinem Orchester seit mehr als 20 Jahren die Kurmusik in Bad Pyrmont. Früher hatte er mehr als 40 Musiker zur Verfügung. Heute sind es 14. Sie stemmen das Programm in drei Orten und teilen sich für die täglichen Konzerte immer wieder neu auf: Eine Gruppe spielt in Bad Pyrmont, die zweite in Bad Nenndorf, die dritte in Bad Salzuflen. Die Orte liegen etwa eine Autostunde voneinander entfernt, nur selten stehen alle 14 Musiker gemeinsam auf der Bühne. Wenn zwei oder drei krank sind oder im Urlaub, wird es eng. Daher auch das E-Piano, das mal dieses, mal jenes Instrument ersetzen muss. Leiter Kovacs stellt seinen Realismus vor die eigenen Träume. „Wir holen aus der kleinen Besetzung das Beste raus“, sagt er. Es werde eben gespart, da müsse man die Lasten verteilen.

„Ich verfolge einen evidenzbasierten Ansatz.“

Unter der Ägide von Kurdirektor Fischer ist Kovacs’ Orchester nicht weiter dezimiert worden. Dennoch macht Fischer unmissverständlich klar, wie er die Verbindung von Kur und Kultur sieht: „Wir haben als Staatsbad keinen Kulturauftrag“, sagt er. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit sorgte er für Ärger. Er schlug vor, die Sinfoniekonzerte, bei denen renommierte Orchester in Bad Pyrmont auftreten, von sechs pro Jahr auf zwei zu reduzieren. Die Klassikfans waren außer sich. Sogar der Pianist Justus Frantz, der in den Achtzigern den Flügel für das Konzerthaus ausgesucht hatte, schaltete sich ein. Er warnte, Bad Pyrmont drohe „im Nebel des Vergessens zu verschwinden“.

Fischer sagt dazu nüchtern: „Ich verfolge einen evidenzbasierten Ansatz.“ Er hatte sich die Besucherzahlen der Sinfoniekonzerte angeschaut: Sie waren stark zurückgegangen, zuletzt waren weniger als die Hälfte der Plätze im Saal besetzt gewesen. Er hatte den Eindruck, dass die Menschen sich etwas anderes wünschten. In der Zwischenzeit hat er einen runden Tisch einberufen, um über diese Frage zu diskutieren. Wahrscheinlich wird es doch auch 2017 wieder sechs Konzerte geben. Allerdings will Fischer sie nicht mehr veranstalten. Am liebsten wäre es ihm, wenn eine Agentur das übernehmen würde. Der Kurdirektor wünscht sich populärere Stücke, auch Filmmusik. Überhaupt soll alles mehr Eventcharakter bekommen: Nach der Musik folgen Häppchen in Lounge-Atmosphäre, zum Beispiel.

Radikale Entschlossenheit zum Wandel

Derzeit investiert das Land Niedersachsen wieder in Bad Pyrmont. Das Gesundheitszentrum Königin-Luise-Bad wird für 15 Millionen Euro modernisiert, das Luxushotel Steigenberger, das dem Land gehört, für sechs Millionen. Fischer führt außerdem Gespräche über ein neues Vier-Sterne-Hotel. Den Selbstzahlern und Erholungsurlaubern, die er in die Stadt holen will, möchte er etwas bieten. Im gehobenen Segment sieht er noch Bedarf, er stellt sich ein Haus mit etwa hundert Betten vor. Dann sei auch genug Platz für ganze Busgruppen, Firmen könnten Tagungen abhalten.

So könnte also das Bad Pyrmont der nicht allzu fernen Zukunft aussehen: ein Ort, an dem die Betagten und die Betuchten es sich gutgehen lassen. Nebenan konferieren Geschäftsleute oder besuchen „Burn out - power on“-Kurse. Und der Gesundheitsmanager bringt die Krankenkassen und Betriebe mit seinen Kompetenzteams zusammen.

Mit Fischer hat sich Bad Pyrmont sozusagen seinen eigenen Unternehmensberater in die Kurverwaltung geholt. Vielleicht braucht es diese fast schon radikale Entschlossenheit zum Wandel, die der Mann aus der Pharmabranche vorlebt, um dem Kurort eine Perspektive zu geben - zumindest aus wirtschaftlicher Sicht. Dieter Alfter, als ehemaliger Museumsleiter Traditionalist, hatte anfangs Sorge, dass die Kultur in der Stadt zu kurz kommen würde. Inzwischen meint er, neue Seiten an Fischer zu erkennen. „Ich glaube, er hat entdeckt, dass Kultur auch ein therapeutisches Angebot ist.“


                      

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