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Ein „Presseclub", in den man sich hineintwittern kann

Manchmal rufen bei Vera Dreckmann leicht beleidigte Journalisten an. „Ich war doch früher ganz häufig im ‚Presseclub', warum werde ich denn nicht mehr eingeladen?" Dreckmann, seit zwei Jahren leitende Redakteurin der ARD-Gesprächssendung, kann dann viel erklären - über Diversity, den Bedarf unterschiedlicher Meinungen in der Sendung, den Wunsch der Redaktion, Vielfalt abzubilden. Im Klartext heißt das: „Wir können ja nicht immer denselben Club von Leuten da sitzen haben, das ist für das Publikum erwartbar und wird langweilig". Und: „Wenn Sie die Gruppe vergrößern, kann es passieren, dass bestimmte Personen weg vom Radar sind."

Die Gruppe: Das sind rund 1.400 potentielle Kontakte, die in der Datenbank des „Presseclubs" hinterlegt sind und die als Gesprächspartner für das traditionsreiche Sonntagsformat in Frage kommen. Seit Dreckmann das Ruder übernommen hat, werden es stetig mehr. Wie viele mehr genau, kann der WDR nicht mit „Daten und Fakten" belegen, aber es ist Dreckmanns ausdrückliches Ziel, „sich darum zu bemühen. Das wollte ich immer, und alle anderen ziehen da auch mit."

Sabine Scholt, die seit 2019 die Programmgruppe Zeitgeschehen, Europa und Ausland beim WDR leitet, stimmt ihr zu: „Zu Werner Höfers Zeiten hatte man das Gefühl, da sitzt immer dieselbe Runde alter, rauchender, Wein trinkender Männer. Über diese Zeiten sind wir, glaube, ich deutlich hinaus." Im „Internationalen Frühschoppen", zu dem Höfer bis 1987 am Sonntagmittag einlud, war tatsächlich einiges anders - nicht nur, dass munter Alkohol konsumiert wurde.

Aber auch gegenüber dem „Presseclub" vergangener Jahre hat sich die Sendung in jüngerer Zeit verändert. Es gibt zwar immer wieder auch noch Runden, in denen ausschließlich Menschen aus den Hierarchien etablierter Medienunternehmen sitzen - Ressortleiterinnen von Zeitschriften, Chefredakteure von Zeitungen, Korrespondenten von Fernsehanstalten. Aber der Kreis der Medien, von denen Vertreterinnen und Vertreter eingeladen werden, ist größer geworden und umfasst Angebote wie „Krautreporter" oder „Correctiv". Und auch als freie Journalistin oder Podcaster ohne traditionelle Medien-Institution im Rücken schafft man es heute in den Club.

Gäste mit zigtausenden Followern

Die neuen, diverseren Talente des „Presseclubs" kommen zunehmend aus der Social-Media-Welt. Natürlich fallen der Redaktion auch Personen auf, die „mit einem Meinungsbeitrag oder einer publizistischen Geschichte in der Woche ins Auge stechen", so Scholt. Aber: „Wir überlegen immer: Wer äußert sich denn zu welchem Thema auf Twitter et cetera?", sagt Dreckmann.

Daher sitzen im „Presseclub" seit jüngerer Zeit auch Journalisten und Journalistinnen wie Malcolm Ohanwe, Mohamed Amjahid oder Anna Schneider. Alle drei haben gemeinsam, dass sie auf Social Media zigtausende Follower haben, vor allem auf Twitter. (Ohanwe hat seinen Account allerdings gerade stillgelegt.)

Ohanwe, der unter anderem für den BR arbeitet, konnte schon zweimal seine Sicht auf die amerikanische Politik im „Presseclub" darlegen. Er hat tatsächlich Amerikanistik studiert - aber das haben viele andere kluge kluge Menschen natürlich auch und schaffen es nicht in die Sendung. Dreckmann erklärt, Ohanwe habe etwa im Vorfeld der US-Wahl mit guten Kontakten zu Schwarzen in Swing States überzeugt. Er habe daher die Situation vor Ort gut einschätzen können.

Amjahid und Schneider waren im März dieses Jahres beide zu Gast beim Thema „Kampf um Anerkennung - Sprengstoff für unsere plurale Gesellschaft?". Schneider, mittlerweile „Chefreporterin Freiheit" bei der „Welt", ist konservativ und regt sich schonmal über „Gendergestotter" auf; Amjahid, Autor mehrerer Bücher zum Thema Rassismus, ist das komplette Gegenteil. Für den „Presseclub" ein doppelter Gewinn: Es prallen nicht nur zwei sehr unterschiedliche - und damit in den Augen der Macher spannende - Haltungen aufeinander. Amjahid und Schneider sorgen in ihren jeweiligen Twitter-Blasen auch für Aufmerksamkeit für die Sendung.

Mischung aus bekannt und erfahren, neu und frisch

Alle drei sind inhaltlich gut aufgestellt, dennoch: Ein wirklicher Experte für einen Fachbereich zu sein, sei nicht mehr unbedingt „das Kriterium Nummer eins", sagt Scholt. Beim „Presseclub" soll es jetzt die Mischung aus „bekannt und sehr erfahren, überraschend, neu und frisch" machen. Dieses Ziel ist sogar in den ARD-Leitlinien 2019/2020 verankert: Demnach haben die Gesprächssendungen der ARD den Auftrag, „systematisch nach mehr Frauen und neuen Gesichtern für ihre Talkrunden" suchen. Grund ist vor allem der Wunsch nach jüngerem Publikum.

Die Stammseher und -seherinnen des Presseclubs sind laut Dreckmann „60 plus", was ihrer Meinung nach nicht am möglicherweise für Jüngere unpraktischen Sendeplatz um 12 Uhr mittags liegt. „Wir müssen versuchen, mehr Menschen von 35 bis 55 zu erreichen. Und das geht auch über den Weg, diverser einzuladen. So können wir unterschiedliche Perspektiven einbringen und die gesamte Gesellschaft abbilden."

Vor nicht allzu langer Zeit hätte es als Zeichen von Diversität schon gereicht, die Diskussionen möglichst geschlechterparitätisch zu besetzen: Nach Möglichkeit sollten zwei Frauen und zwei Männer debattieren. Das war der ausdrückliche Wunsch von Ellis Fröder, die den „Presseclub" von 2008 bis 2012 leitete.

Heute genügt das nicht mehr: Der „Presseclub" unterhält in seiner Kontaktdatei unter anderem eigene Listen für nicht-weiße Kolleginnen und Kollegen - oder für Journalistinnen und Journalisten mit ostdeutschem Hintergrund. Das allein, das ist Dreckmann und Scholt wichtig, befähigt eine Person natürlich nicht als potentiellen „Presseclub"-Gast. „Das Hauptschlagwort ist immer das, was Sie inhaltlich draufhaben".

Je nach Fachgebiet kann es also vorkommen, dass eine Journalistin verschlagwortet ist mit Begriffen wie: „USA-Kennerin, Kennerin der Polizeistrukturen" - und zusätzlich dankenswerterweise PoC und Ostdeutsche ist. Das kann auch zu Missverständnissen führen: Gerade Ostdeutsche und PoC wollen nicht immer nur dann eingeladen werden, wenn es um Themen wie - Überraschung! - Ostdeutschland, Migration oder Rassismus geht. Scholt gibt zu: „Das macht es manchmal schwierig. Da ist man in bester Absicht unterwegs, und dann gibt es genau den Reflex: Aber bitte, ich bin mehr als nur meine Herkunft."

Auch der Wunsch nach neuen, diverseren Gesichtern ist manchmal eine Gratwanderung. Dreckmann betont, alle potentiellen „Neuen" würden im Gegensatz zu alten „Presseclub"-Hasen gründlich gecheckt, sie führe „mindestens einstündige Vorgespräche" mit frisch gecasteten Gästen, die die Redaktion einladen will. Trotzdem komme es hin und wieder vor, dass man doch jemanden in der Sendung habe, bei dem man sich im Nachhinein denke: „Naja, der adressiert vielleicht viele junge Leute, aber ich hätte doch besser den Erfahrenen genommen."

Auftakt für Talkshow-Karrieren

Daher kann es mittlerweile vorkommen, dass sich Zuschauerinnen und Zuschauer fragen, warum ein sehr profilierter Journalist kaum noch im „Presseclub" auftaucht. „Es gibt immer mehr profilierte Kollegen", sagt Dreckmann - manchmal seien sie nicht verfügbar, manchmal will der WDR aber auch einfach ein neues Gesicht ausprobieren. Jemand, der möglichst nicht schon „in derselben Woche bei Anne Will, Maischberger und Lanz" saß, so Scholt.

Die Autorin

Tatjana Kerschbaumer arbeitet als freie Autorin seit 2014 im Medienjournalismus, unter anderem für den „Tagesspiegel" und die „turi2 edition".

Dass sich umgekehrt andere Redaktionen vom „Presseclub" in Sachen Gästeauswahl inspirieren lassen, finden die Verantwortlichen gut. Scholt sagt: „Unser Adressbuch ist ziemlich umfangreich. Wir haben in der letzten Zeit echte Entdeckungen gemacht, zum Beispiel Anna Mayr von der ‚Zeit', Yasmine M'Barek oder Kaja Klapsa von der ‚Welt'". Klapsa etwa war zuerst im „Presseclub" zu Gast, kurze Zeit später saß sie dann bei Markus Lanz.

Zuschauerinnen und Zuschauer finden die diversere Aufstellung des „Presseclubs" offenbar gut, „Kritik höre ich da seltener", sagt Dreckmann. Einige beschweren sich über die Präsenz von Social Media in der Sendung, was aber weniger die Gästeauswahl betrifft, als das Vorlesen von Tweets und Kommentaren durch den Moderator. Das soll dennoch ebenso beibehalten werden wie der Kurs, das Netz nach talkshowtauglichen Neuentdeckungen zu durchforsten. Geht es nach dem WDR, bleiben den leicht beleidigten Journalisten, die vom Radar verschwunden sind, erst einmal nur Werner-Höfer-Wiederholungen - vielleicht bei einem Schoppen Wein.

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