„Ich trage Größe 38, habe einen kleinen Busen und musste heute in einer H&M-Filiale fragen, ob es dieses Kleid auch in Größe 44 gibt (gab es nicht)", schrieb Lowri Byrne 2017 in einem an die Modekette H&M gerichteten Facebookpost. Das sei nicht nur ärgerlich, da sie das Kleid unbedingt kaufen wollte, sondern auch, weil so viele Frauen sich zu Herzen nehmen, wenn sie zu dick für eine Kleidergröße sind.
Diverse Medien griffen das Thema auf. Der Post erhielt fast 4500 Likes und 400 Kommentare. In den sozialen Netzwerken tauchten mehr und mehr ähnliche Beiträge auf.
Vermutlich kennt ihn jeder, den schrecklichen Moment in der Umkleidekabine: Das grelle Licht, das jedes Pölsterchen anstrahlt, die Erkenntnis, dass der Po für die eine Jeans zu flach ist, für die andere die Hüfte zu breit. Der Shopping-Trip, der eigentlich für Freude sorgen sollte, löst größte Selbstzweifel aus.
Claudia Gerhardt, Leiterin der Psychology School der Hochschule Fresenius in Hamburg, erklärt, dass das Selbstwertgefühl und Kleidergrößen tatsächlich miteinander zusammenhängen können: „Diese Zahlen und Labels sind in unseren Köpfen drin und auf gewisse Art bewertet." Es gebe zum einen den wohltuenden Effekt, wenn man zum Beispiel als füllige Frau überraschend eine Hose in 38 tragen kann. Benötige man aber eine Nummer größer als die, die man normalerweise trägt, oder die als Schönheitsideal gilt, gibt es einen unangenehmen Effekt auf das Selbstwertgefühl. Unternehmen stehen aufgrund ihrer Standardgrößen also direkt in der Verantwortung. Sie sollten ihre Kleidergrößen für jedes Land einzeln kalkulieren, sagt Gerhardt. Denn asiatische Menschen hätten durchschnittlich zierlichere Körper als europäische Menschen. „Zudem kann eine Neuvermessung 'der Frau' sinnvoll sein", sagt Gerhardt. Denn der Durchschnitts-Körper verändert sich im Laufe der Zeit.
H&M hat zwar angekündigt, sich des Themas anzunehmen, macht es sich jedoch ziemlich leicht: Die Kette will ihre Kunden besänftigen, indem sie die Nummern in der Größentabelle einfach um eine Zeile nach unten „verschiebt". Teile in den Maßen der europäischen Größe 38 werden in Großbritannien künftig als Größe 36 ausgezeichnet. Auch in den USA, in Kanada, Mexiko und Kolumbien werden Kleidungsstücke ab der Herbstkollektion größer sein als gewohnt. In Deutschland aber soll alles beim Alten bleiben, bestätigt H&M auf Nachfrage.
Für die Modefirmen sind gut gelaunte Kunden natürlich wichtig, ein frustrierendes Shoppingerlebnis führt nicht unbedingt zur Wiederholung. Der Online-Shop Zozo möchte Kleidergrößen auch deshalb komplett abschaffen. Als Ableger von Zozotown - dem japanischen Pendant zu Zalando - wird das Start-up im August in 72 Ländern launchen. Die Idee: maßgeschneiderte Kleidung für die Massenproduktion tauglich machen.
Das soll mit dem Zozo-Suit funktionieren, den sich die Kunden nach Hause bestellen. Der schwarze Stretch-Anzug ist hauteng und mit weißen Kreisen bedruckt, anhand derer die dazugehörige App den Körper vermisst. Denn jeder Kreis enthält eine einzigartige Kombination von schwarzen Punkten. „Auf Basis mehrerer Fotos kreiert die App schließlich den Körper als dreidimensionales Modell", erklärt Zozo-CEO Masahiro Ito.
In Deutschland wird man mit Hilfe des Zozo-Suits mehrere Jeansmodelle, T-Shirts, Blusen und Hemden nach den persönlichen Maßen konfigurieren können. Auch Anzüge nach Maß gibt es bei Zozo, zunächst allerdings nur in Japan. Die Preise der quasi maßgeschneiderten Kleidung sind angesichts des Aufwands überraschend günstig: Eine Jeans soll 59 Euro kosten, die Hemden und Blusen 49, die T-Shirts 22 Euro. Damit die Schnitte international funktionieren, wurden hunderte von Menschen in Europa, Amerika und Japan vermessen.
Der Firmengründer glaubt, dass seine Idee ein großes Wachstumspotential hat und noch auf viel mehr Produktgruppen anzuwenden sei: „Nehmen wir die Lederjacke als Beispiel. Sie ist teuer, sodass man nichts falsch machen möchte, aber es ist auch schwierig, die richtige Größe zu finden", sagt Ito.
Wer nichts falsch machen möchte und viele Basics trägt, für den ist ein Konzept wie das von Zozo sicherlich hilfreich. Allerdings ist die Firma keine Trendmarke, will es auch gar nicht sein; und gerade in der Mode geht es nicht nur um Vernunft, sondern vor allem um Begehrlichkeiten.
Psychologin Claudia Gerhardt sieht genau das als mögliche Hürde für den Unternehmenserfolg. Zwar gebe es sicher einen Markt für günstige Mode nach Maß. Für Menschen, die stark von den Standardgrößen abweichen, sei Zozo praktisch. „Die meisten jungen Menschen spricht das Konzept aber meiner Einschätzung nach nicht an. Diese kaufen häufig Markenkleidung oder Trends, um in ihrer Peer-Group anerkannt zu werden", erklärt Gerhardt. Nur wer nicht das Bedürfnis hat, sein Ego auf diese Weise zu pushen, wird bei Zozo kaufen. Im Umkehrschluss haben diese Personen aber vermutlich ein eher gefestigtes Selbstbild. Genau bei der Konsumentengruppe, deren Selbstwertgefühl besonders stark von der Kleidergröße abhängt, wird ein unbekannter Textilhersteller vermutlich nicht ankommen.
Betroffene können aber selbst etwas dafür tun, dass ihnen Mode wieder Spaß macht - auch, wenn Kleidergröße 36 zu eng ist. „Man kann das Selbstwertgefühl vom Körperbild entkoppeln und sich bewusst machen, dass es noch andere Säulen gibt, auf denen dieses fußt", erklärt Gerhardt. Eine Alternative oder Ergänzung sei, das Schönheitsideal zu hinterfragen und als ein vom Zeitgeist und der Kultur abhängiges Konzept zu betrachten - das zu einer anderen Zeit oder anderenorts eben auch ganz anders aussehen kann.
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