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SCHIELE, DER SEHER

Schiele griff Roesslers spirituelles Wissen begeistert auf und setzte es in seinen Bildern um. Ende 1910 malte er zwei Gemälde mit denen er direkt unter Beweis stellte, dass er die Lehren nicht nur verstanden, sondern gar verfeinert hatte. Im "Bildnis Arthur Roessler" ist ein zutiefst spiritueller Mensch zu sehen, der mit geschlossenen Augen und vom Betrachter abgewandten Kopf dargestellt ist. Roesslers Körper wirkt leicht, als würde er schweben, was auf eine Auseinandersetzung Schieles mit der spirituellen Levitation, dem freien Schweben eines Körpers, hindeuten könnte. Darüber hinaus ist eine Form zu sehen, ähnlich einer Blase, die den Kunstkritiker umgibt. Die Assoziation der Aura drängt sich dem Betrachter auf.

Schieles esoterisches Interesse nahm bald solche Ausmaße an, dass es selbst Roesslers spirituellen Horizont überstieg. Schiele setzte sich schließlich sogar mit der Lehre des Astralkörpers, der psychologischen Methode des automatischem Schreibens (Écriture automatique) und Doppelgängern auseinander. Sein Doppelselbstbildnis "Die Selbstseher II (Tod und Mann)" zeigt eine vertiefende Auseinandersetzung mit okkulten Themen. Man sieht Schiele in doppelter Ausführung, sich selbst von hinten umarmend. Doch sind die Augen beider geschlossen, der Blick nach Innen gerichtet, auf der Suche nach spiritueller Erleuchtung. Die auffällig isolierte Hand im Vordergrund, die anatomisch nicht zuzuordnen ist, greift das Thema des automatischen Schreibens auf.

Nicht nur erschuf Schiele eine völlig neue und eigenwillige Bildsprache, er entwickelte auch eine eigene Ikonografie, die frei von mythischem oder historischem Code war. Gerade in einer Zeit, in der die Moralvorstellungen prüde und bigott waren, war Schieles bewusstes Brechen mit den Konventionen äußerst provokant. Nicht nur sein unkonventionelles Privatleben, auch seine intensive Ergründung der Sexualität und seine eindringliche Darstellungen von Akten brachten ihm viel Kritik und gesellschaftliche Restriktion ein. Sein Brechen mit jeglicher Konvention unterstreicht, wie sehr Schiele seinem selbst auferlegten Anspruch gerecht wurde, als Künstler nur sich selbst verpflichtet zu sein und auf keinerlei äußere Bestätigung angewiesen zu sein.

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