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Eine junge Frau erschüttert Marokko

Viele Marokkaner ziehen die Unschuld der jungen Frau in Zweifel und behaupten, dass sie sich selber tätowiert hat. (Bild: Fadel Senna / AFP)

Eine 17-Jährige wird in Marokko entführt, vergewaltigt und tätowiert. Doch statt über Gewalt gegen Frauen spricht das Land vor allem über eine Frage: Ist Khadija selbst schuld?



Eine Frau in Strapsen. Ein Hakenkreuz. Etwas, das aussieht wie ein Tampon. Krakelige Schriftzüge mit Rechtschreibfehlern. Dazu ein paar Sternchen und Herzchen. Es sieht aus, als hätten Kinder Albernheiten auf eine Wand gemalt. Nur dass die Wand ein Frauenkörper ist. Er gehört Khadija. Hinter den Kritzeleien stecken auch keine Kinder. Es waren Männer zwischen 17 und 40 Jahren, die diese auf Hände, Arme und Beine der 17-Jährigen tätowierten. So soll sich die junge Frau für immer daran erinnern, was ihr im Verlauf von zwei schrecklichen Monaten im Sommer widerfuhr. In der Zeit, in der sie verschwunden war.

"Es ist gar nicht so sicher, was da passiert ist. Die Geschichte ist kompliziert", werden später Taxifahrer, Fahrkartenverkäuferinnen, Passanten oder Kellnerinnen sagen - wen auch immer man in Marokko nach dem Fall fragt. "Sie soll bereits vorher geraucht und sich mit Jungs getroffen haben", folgt meistens als Argument. Eine selbsterklärte Expertin für Tattooentfernungen meldet sich zu Wort und zweifelt Khadijas Geschichte öffentlich an, indem sie behauptet, die Tätowierungen seien viel älter und könnten gar nicht in diesem Sommer entstanden sein. Die Öffentlichkeit glaubt ihr.

Was genau ist also geschehen in den zwei Monaten, als Khadija verschwunden war? War es tatsächlich Vergewaltigung - oder ist Khadija freiwillig mit den Männern mitgegangen? Wurde sie wirklich gegen ihren Willen tätowiert - oder hat sie sich die Tattoos alleine zugefügt? Ist sie nicht selbst schuld? Genau das werden medizinische Gutachten nahelegen und die Familien der inhaftierten Täter einhellig versichern, während das ganze Land nach der Wahrheit sucht.


Unterdessen geht es Khadija schlecht. Sie leidet unter der Tat und unter der öffentlichen Diskussion darüber. "In meinen Gedanken verfolgen mich die Männer überallhin, nirgendwo habe ich Ruhe", erzählt die junge Frau von der psychischen Belastung. "Sie haben Dinge mit mir getan, die ich mir vorher nicht mal hätte vorstellen können. Sie verhielten sich wie Monster. Sie behandelten mich mit hemmungsloser Grausamkeit, sie schlugen mich, verbrannten mich, beschimpften und bedrohten mich. Es fühlte sich an wie Rache - aber ich habe ihnen nie etwas getan, ich weiss also nicht, wofür."

Wenn Khadija darüber spricht, was ihr angetan wurde, muss sie bei jeder Frage lange überlegen. Es sieht aus, als müsste sie einen langen Weg durch ihr Gedächtnis zurücklegen bis zu dem Ort, an dem die Erinnerung an das Unvorstellbare verschlossen ist. Dann holt sie es hervor. "Die Vergewaltigungen waren das Schlimmste, meine tätowierte Hand erinnert mich jeden Tag daran. Mein ganzes Leben ist ruiniert. Ich habe Albträume, ich habe ständig Angst, ich kann niemandem mehr vertrauen. Jungs haben jetzt eine schlechte Meinung von mir - und ich von ihnen", erzählt die 17-Jährige in ernsten, einfachen Worten. Schnell schlägt sie die Kleidung zurück über ihre gezeichnete Haut. Vor Gericht trägt sie einen schwarzen Handschuh, aus Scham.


Ein zweifelhaftes Gutachten

Die ganze Familie hat das Schicksal von Khadija hart getroffen. Der Vater hat als Trommler auf Hochzeiten gearbeitet, bevor das mit Khadija passierte. Seitdem bekommt er keine Aufträge mehr. Seine Musikinstrumente musste er verkaufen. Die Mutter knüpft Teppiche, verlässt aber das Haus kaum noch. Der jüngere Bruder geht jeden Tag mit den Geschwistern der Vergewaltiger seiner Schwester zur Schule. "Er lacht nur noch selten", sagt die Mutter.

Khadijas Familie ist arm, jetzt kämpft sie ums nackte Überleben. Khadija geht nicht mehr aus dem Haus, weil sie das Gerede der Leute nicht ertragen kann. "Das ist doch die mit den Tätowierungen", raunt es draussen hinter ihrem Rücken. Zu Hause eingeschlossen, hat sie viel Zeit zum Grübeln und kann sich kaum ablenken. Was Khadija "Zuhause" nennt, ist eigentlich eine Baracke. Es gibt keine Türen, es gibt kein fliessendes Wasser und nicht überall ein Dach über dem Kopf. Das einzige Möbelstück ist ein kleines Regal mit einem alten Fernseher darauf. Darunter ein Koran und ein Silberdolch, der ganze Besitz der Familie. Matten liegen in einer Ecke auf dem blossen Erdboden. Darauf essen wir zu Abend, darauf schlafen wir später alle zusammen in viele Decken eingepackt, denn es ist kalt. Grosse Ameisen und Kakerlaken krabbeln über das brüchige Mauerwerk. Der Fernseher ist für Khadija das einzige Fenster zur Aussenwelt. Doch so bekommt sie auch mit, wie ihre Geschichte in der Öffentlichkeit durch den Schmutz gezogen wird. Dass nur wenige ihr glauben.

Dabei stehen die Fakten längst fest. Obwohl die Täter gestanden haben, unter anderem die Tätowierungen, glauben viele Marokkanerinnen und vor allem Marokkaner aber lieber, dass Khadija sich selbst tätowiert hat. Als ob der Fall an einen tiefsitzenden wunden Punkt rührt - und deshalb einfach nicht wahr sein darf. Es scheint einfacher zu sein, die Schuld beim Opfer als bei den Tätern zu suchen.

Im Protokoll der Polizei wird jedenfalls bereits kurz nach dem Vorfall festgehalten, dass Khadija mit einem Schwert entführt wurde, von einem Bauern aus ihrem Dorf Oulad Ayad, in der Mitte von nirgendwo in Marokko. Er hielt sie zusammen mit weiteren Männern an unterschiedlichen Orten gefangen. Sie wurde herumgereicht. Insgesamt fünfzehn von ihnen vergewaltigten sie, Hunderte von Malen, manchmal alle hintereinander, in Gewaltorgien, die bis zu acht Stunden dauerten - in Dachkammern, auf Steinfussböden, auf Olivenfeldern und Friedhöfen, sogar in einer Höhle im nahe gelegenen Gebirge. So steht es im Polizeibericht, der auf Khadijas Aussagen und den Geständnissen der Täter beruht. Letztere unterscheiden sich nur in einem einzigen, aber wichtigen Punkt von Khadijas Version: Sie soll in alles eingewilligt, die Männer sie zu nichts gezwungen haben.

Khadija sagt, die Männer hätten sie geschlagen und ihre Haut mit Zigarettenkippen verbrannt. Sie setzten sie unter Drogen und beschimpften sie. Sie überkippten sie mit einer alkoholischen Lösung und drohten, sie mit einem Stromschlag durch ein elektrisches Kabel bei lebendigem Leib zu verbrennen. Ein anderes Mal, sie im Fluss zu ertränken. Sie verkauften Sex mit ihr an jeden, der bereit war, umgerechnet fünf bis zehn Euro zu bezahlen. In einer einzigen Nacht stachen zwei der Täter all die Tätowierungen mit Nadeln in Khadijas Körper. Andere hinterliessen Brandzeichen. Wie man es bei Vieh macht, um die Besitzverhältnisse klarzustellen.

Die körperlichen Spuren werden hinterher auch von medizinischen Gerichtsgutachtern in Augenschein genommen. Sie kommen zu dem Schluss, dass der jungen Frau im Zeitraum ihres Verschwindens massive Gewalt angetan wurde. "Sie könnte es aber auch selbst getan haben", relativieren sie jedoch und widersprechen damit teilweise sogar den Geständnissen im Polizeibericht. Wie genau Khadija das gemacht haben soll, vor allem die Tätowierung im Nacken, geht aus dem Gutachten nicht hervor. Warum darin so etwas steht, das wird später aber noch bedeutsam.


Der Fall Khadija wurde übermächtig

Als Khadija freikommt und die Männer bei der Polizei anzeigt, bringt ihr Fall sofort eine Lawine ins Rollen. Zunächst bricht ein Sturm der Entrüstung los. Es wird heftig diskutiert, über die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen, über bedrohte Männlichkeit durch zu schnellen gesellschaftlichen Wandel, über erwerbstätige Frauen in grossen Städten und arbeitslose Männer in abgehängten Gegenden. Die ganze Gesellschaft ist in Aufruhr: Männer, Frauen, Alte, Junge, Arme, Reiche, Konservative, Liberale, Gebildete, Ungebildete. Es gibt Demonstrationen für mehr Frauenrechte und Aktionen gegen Gewalt.

Ein marokkanisches #MeToo wird gegründet, #Masaktach (#IchSchweigeNicht). Die Bewegung mobilisiert innerhalb kürzester Zeit Massen von Menschen. Und hat bald so viel Macht, dass sie den marokkanischen Pop-Star Saad Lamjarred hinter Gitter bringt. Er soll über Jahre mehrere Frauen vergewaltigt haben, doch König Mohammed VI. persönlich hatte beim letzten Prozess seine Anwälte bezahlt und die Kaution gestellt. Lamjarred kam frei. Bis #Masaktach auf den Plan trat und Druck machte - nun sitzt der Sänger im Gefängnis und wartet auf seine Anklage.

"Das ist es, was der Makhzen am meisten fürchtet", geben die Anwältin Laila Slassi und die Künstlerin Maria Karim zu bedenken. Sie sind die Gründerinnen von #Masaktach, und mit Makhzen meinen sie diejenigen, die in Marokko die Macht haben. Ihre Überlegung ist folgende: Wenn sich zu viele marokkanische Bürger sammeln, mehr Frauenrechte fordern und damit Erfolg haben, könnten sie ja auch auf die Idee kommen, mehr Demokratie zu fordern - wie 2011. Sie könnten männliche Herrschaft insgesamt infrage stellen - und damit auch die staatliche Autorität, die darauf gründet. Was der Makhzen gar nicht mag, ist, wenn Wandel von unten kommt. Es soll der König sein, der seinem Volk Reformen spendet.

Der Menschenrechtsaktivist Noureddine Saidi ist deshalb überzeugt: Der Makhzen will Khadija mit voller Absicht unglaubwürdig machen und hat aus diesem Grund eine Desinformationskampagne gestartet. Wegen des grossen Mobilisierungspotenzials, das ihr Fall zu entfalten begann. Und weil das Image Marokkos in Gefahr geriet, als die internationale Presse aufmerksam wurde. Saidi ist der Sprecher einer Gruppe, die Khadija von Beginn an unterstützte.

"Sie nahmen das wirkmächtige Symbol, die Tätowierungen, und zerstörten es", ist sich Saidi sicher. Die Spezialistin für Tattooentfernungen, das spekulative Gutachten, verschleppte Gerichtsverhandlungen, für den Aktivisten passt alles zusammen. Trotz den offensichtlichen Widersprüchen und den Geständnissen glaubt die marokkanische Öffentlichkeit inzwischen mehrheitlich daran, dass Khadija selbst schuld ist. Warum?


Eine junge Frau stellt die männliche Herrschaft infrage

Weil die Gesellschaft im Kleinen genauso autoritär und patriarchal funktioniert wie der Staat im Grossen. Deshalb trifft jeder Samen des Zweifels auf fruchtbaren Boden. Deshalb haben diejenigen, die Opfer von sexueller Gewalt diskreditieren wollen, leichtes Spiel. So erklärt es Nadia Hmaity von der marokkanischen Frauenrechtsorganisation ADFM. Sie spricht von einem richtigen Kult, die Opfer zu beschuldigen. "Wenn eine Frau, die von ihrem Partner geschlagen wird, sich jemandem anvertraut, ist die erste Frage, die ihr gestellt wird: ‹Warum hast du dir diesen Mann gesucht?›"

Und Hmaity erklärt weiter: "Das Wichtigste ist das Image, daran darf nicht gerüttelt werden. Das zieht sich durch alle Ebenen, vom Ruf des Landes über den Ruf des Dorfes bis hin zum Ruf einer einzelnen Familie." Eine Frau, die Opfer von Gewalt werde, tue sich deshalb schwer, die Tat anzuzeigen - schon wegen des Geredes. Und wegen eines tiefsitzenden Misstrauens gegenüber staatlichen Institutionen. "Stell dir vor: Eine Frau kommt nach einer Vergewaltigung auf einen Polizeiposten. Dort ist es dreckig. Sie wartet lange inmitten von Kriminellen, bis sie gehört wird", so illustriert die Frauenrechtlerin eine typische Opfersituation. Sie führt aus: "Männlichen Polizisten muss die Frau erzählen, was passiert ist. Männliche Gynäkologen untersuchen sie anschliessend. Ein männlicher Richter wird später das Urteil sprechen. Es ist von Anfang an klar, dass eine anständige Frau in dieser Männerwelt nichts verloren hat."

Daran lässt sich ermessen, wie skandalös der Fall Khadija ist. Eine junge Frau hat keine Angst, ihre Peiniger anzuzeigen, sie wendet sich sogar an die Öffentlichkeit. Und bringt damit das ganze System durcheinander. Hinzu kommt, dass die Familie von Khadija arm ist. Der Fall lässt sich also nicht einfach abtun als etwas, das nur in elitären Zirkeln verhandelt wird, wo die Frauen über die Mittel verfügen, sich zu wehren. Er betrifft alle. Wie autoritär der Staat ist, zeigt die Gerichtsverhandlung. Mittwoch, 14. November, neun Uhr. Eine Anhörung von Khadija und den Tätern ist angesetzt. Die Jugendliche wartet im Auto, denn ihren Spiessrutenlauf, vorbei an den wartenden Angehörigen der fünfzehn Täter, will sie erst in allerletzter Sekunde absolvieren. Wir warten darauf, dass es losgeht. Niemand weiss, warum es so lange dauert, was als Nächstes passiert oder warum. Weder die Familien noch die Anwälte, noch die Gerichtsjournalisten. Die Abläufe vor Gericht liegen einzig in der Hand des Richters. Für alle anderen sind sie weitestgehend intransparent.

Nach Stunden dann die Nachricht: Die Gerichtsverhandlung fällt aus. Khadija kann nach Hause gehen. Der Richter will erst noch ein psychiatrisches Gutachten über sie einholen. Kann ja sein, dass sie verrückt ist.

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