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Wie Kinder von Eltern Umweltschutz einfordern

Die Generation Greta protestiert nicht nur gegen die Politik, sondern auch gegen den Lifestyle der Erziehungsberechtigten. Über einen Alltag im Dauerdemo-Modus

Massenstreik fürs Klima. Bei diesem Engagement kommen ältere Generationen nicht ganz mit. Foto: Lena Gannsmann

Julia Melle ist angespannt, als sie den Abendbrottisch in ihrer Kreuzberger Altbau-Küche deckt. Während sie die Hummus-Paste und den veganen Brotaufstrich aufträgt, geht sie im Kopf noch mal durch, was sie sagen will, wenn ihre Tochter durch die Tür kommt. Melle will nämlich nach Tel Aviv fliegen. Und zwar mit der ganzen Familie.

Es gibt da nur ein Problem: Ihre ältere Tochter Ronja ist 16, Jahrgang 2003, genau wie die Klimaschutzikone Greta Thunberg. Und ähnlich wie Thunberg geht auch Ronja so oft wie möglich freitags auf die Straße. Sie ernährt sich seit einiger Zeit vegan, kauft sich so gut wie keine neuen Klamotten mehr.

Es könnte also schwierig werden, den Flug nach Tel Aviv durch den Familienrat zu bekommen. Die Stadt ist knapp 6.000 Kilometer von Berlin entfernt, der Flug verursacht pro Person fast eine Tonne CO2. Das weiß auch die 40-jährige Julia Melle, und es gefällt ihr nicht. Aber einmal nach Israel zu reisen ist seit langem ihr Traum - und jetzt wäre der ideale Zeitpunkt. Die Melles könnten mit einer Familie dort die Wohnung tauschen und ein guter Freund aus Tel Aviv wäre zur selben Zeit vor Ort, er würde ihnen alle Hot Spots zeigen. Es sei denn: Ronja sagt nein. Weigert sich mitzukommen, wegen der Klimafolgen. Macht ihnen Vorwürfe.

Vorwürfe an die Eltern

Vorwürfe sind zur Zeit keine Seltenheit. Wieso klebt da Frischhaltefolie auf der Salatschüssel? Wieso hast Du Dir ein Wasser in einer Plastikflasche gekauft? Was soll das heißen, ihr „schafft" es am Freitag nicht zur Fridays for Future-Demo? Dabei ist Ronja noch relativ moderat, das weiß auch ihre Mutter. In anderen Familien gehen die Jugendlichen nur noch sporadisch zur Schule, weil sie lieber mit Extinction Rebellion Straßenkreuzungen blockieren oder den Hambacher Forst besetzen.

Ronja Melle sagt: „Wir wollen in 20 Jahren auch noch so eine Welt haben wie jetzt und nicht den Scheiß von den anderen ausbaden, nur weil die nicht gerafft haben, was hier passiert. Wir kämpfen nicht nur für ein paar grüne Bäume, wir kämpfen dafür, dass wir überhaupt noch Zukunftschancen haben."

Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann sagt: „Die junge Generation übernimmt die moralische Erziehung der Älteren. Das gab es noch nie." Die 68er hätten sich stattdessen von ihren Eltern abgegrenzt.

Es hat etwas von Rollentausch. Jetzt ermahnen die Kinder die Erwachsenen, endlich mal ihre Hausaufgaben zu machen. Die Fridays for Future-Aktivistin Luisa Neubauer hat das kürzlich in einem Interview so ausgedrückt: „Es ist schon so, als würden wir in so eine ganz merkwürdige Lehrer- und Lehrerinnenrolle schlüpfen".

Zuvor war es ziemlich harmonisch zugegangen zwischen Alt und Jung. Noch 2017 belegte der Kinder- und Jugendbericht des Bundes, dass fast drei Viertel der jungen Erwachsenen ihre Kinder so erziehen würden, wie sie selbst erzogen worden sind. „Wir hatten noch nie ein so gutes Verhältnis von Jugendlichen zu ihren Eltern", sagt Jugendforscher Hurrelmann. Die Eltern seien für den Nachwuchs Anker, Geldgeber und Ratgeber. Nur eben nicht, wenn es um die Umwelt geht. Da brächten die Jungen neuerdings eine „solidarisch-kritische Erwartungshaltung" mit.

Bei den Melles ist der Abendbrottisch zur Konfliktzone geworden. Seit Ronja sich vegan ernährt, kommt vor jeder Mahlzeit die Inquisition: Ist da Milch in der Soße? Welche Brühe hast du für die Suppe genommen? Ihre früheren Lieblingsgerichte lehnt sie nun ab. Eier mit Senfsauce, Kartoffeln mit Quark, Käsespätzle. Ronja brutzelt sich jetzt ihre eigenen, klimafreundlichen Mahlzeiten. Für Julia Melle fühlt sich das so an, als verlaufe mit einem Mal ein Graben durch die Familie.

Dabei findet Julia Melle, dass sie und ihr Mann doch schon zu den Guten gehören: Sie fahren unter der Woche nur noch Fahrrad, kaufen oft im Bioladen, nehmen den Stoffbeutel sogar mit zum Bäcker. Reicht das denn nicht? „Nein", findet Ronja, „das reicht leider nicht."

Nur noch Gemüse auf dem Grill

Julia Melle will sich aber nicht so weit einschränken lassen, dass ihre Bedürfnisse komplett auf der Strecke bleiben. Wenn sie mit der Familie über das Wochenende in ihr Häuschen in der Uckermark fährt, gehört es für sie dazu, dass sie abends grillen - ein Ritual, das bis vor kurzem alle geliebt haben. Jetzt darf nur noch Gemüse auf den Rost. Julia Melle erzählt, dass, wenn sie trotzdem etwas anderes grillen, Ronja ihnen Blicke zuwerfe, die sagen: „Was ihr da macht, geht gar nicht". Dass in ihrem Blick aber auch eine Verzweiflung mitschwinge, die Frage, wie das mit dem Zusammenleben weiter funktionieren soll. Die Stimmung sei dann „eher so mittel."

Bisher, so erzählt es Melle, hatten sie keinen Stress mit pubertätsbedingten Revolten, demonstrativer Abgrenzung, Null Bock-Attitüden. Sie verstehen sich bestens. Eigentlich. Dass ihnen jetzt Fridays for Future einen Strich durch die Rechnung macht, kommt Melle vor wie ein schlechter Witz. Ronja rebelliert nicht wegen Ausgehzeiten oder Kleidervorschriften, sondern damit die Eltern ihre Verantwortung für die Zukunft ernst nehmen.

Im Grunde findet Julia Melle die Entscheidungen, die Ronja trifft, ja richtig. Sie will nur nicht, dass ihr Familienleben deswegen auseinanderfliegt. Also hat sie vor einiger Zeit angefangen, mit veganen Gerichten zu experimentieren: Mal gibt es Linsenbratlinge, mal Kichererbsenmus, mal Pizza mit Käseersatz. Im Supermarkt legt sie neuerdings jeden Pilz und jede Kartoffel einzeln aufs Band. Von Ronja, das sagt Melle mit einem Lachen, „kriege ich dafür ein Sternchen."

Mit dem Flug nach Tel Aviv hat Ronja lange gehadert, sich aber am Ende durchgerungen: Sie kommt mit nach Israel. Aber nur unter der Bedingung, dass die Familie im restlichen Jahr nicht mehr fliegt. Ihre Eltern planen für den Sommer eine Zugreise.

Alle Namen von der Redaktion geändert
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