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Die Schule für Erwachsenenbildung in Kreuzberg

Kein Direktor, keine Noten, keine Zeugnisse: Die Schule für Erwachsenenbildung (SFE) im ­Kreuzberger Mehringhof ist anders als andere Schulen. Jetzt kommt ein Dokumentarfilm über die SFE ins Kino

So stellen sich Schüler vermutlich ihre Traumschule vor: „Es geht erst um halb zehn los, du kannst deinen Hund mitbringen, und wenn du angekommen bist, kannst du erst mal die Kaffee­maschine anwerfen oder im schlimmsten Fall auch einschlafen im Unterricht." Tatsächlich beschreibt Klaus Trappmann so die Schule, an der er seit rund 40 Jahren unterrichtet. Sie liegt im Mehringhof in Kreuzberg, in einem ehemaligen Fabrikgebäude, neben dem linken Buchladen „Schwarze Risse", dem Mehringhof-Theater und dem als Kollektiv gegründeten „Fahrradladen Mehringhof". Die Mauern und Durchgänge des Hofes sind übersät mit Graffiti und Plakaten, die zum Widerstand aufrufen: gegen Staat und Polizei, gegen Abschiebung und Räumung. Ein bisschen fühlt es sich so an, als wäre hier die Zeit stehengeblieben; das alte Kreuzberg liegt noch in der Luft, der Geruch von Cannabis auch.

Die SFE ist eine alternative Schule des Zweiten ­Bildungsweges zur Vorbereitung auf die Mittlere Reife und das Abitur. Sie wurde 1973 von Schülern gegründet, die sich befreien wollten von autoritären ­Strukturen und Leistungsdruck. Die Gründungsmaximen der SFE gelten bis heute: kein Direktor, keine Noten, keine Zeugnisse. „Du hast hier erst mal nichts, was dich an eine normale Schule erinnert", sagt Trappmann.

Er hat eine warme Stimme, lange graue Haare, er trägt ein leuchtend oranges Hemd. An der SFE ­duzen sich alle, alle gehen auf dasselbe Klo, alle putzen. Im ­Foyer der Schule noch mehr Graffiti, Jugendliche mit grünen, blauen oder pinken Haaren laufen vorbei, ­Hunde springen hinterher. Es sieht eher aus wie in ­einem autonomen Jugendzentrum, aber am Schwarzen Brett hängen Stundenpläne und AG-Listen. Zur Wahl stehen etwa die Rosa-Lux-AG, die Ghana-AG und das Linke Schüler_innenkomittee.

Sämtliche die Schule betreffenden Entscheidungen vom Lehrergehalt bis zu Neueinstellungen werden von der Vollversammlung (VV) getroffen, in der jedes Mitglied der Schule eine Stimme hat. Die VV sei „berüchtigt", sagt Trappmann, den an der SFE jeder Klaus nennt. Er erinnert sich, dass er vor Jahren extra eine VV einberufen hat, weil er ISDN-Telefone und Computer für die Buchhaltung anschaffen wollte. Harte Arbeit sei es ­gewesen, die VV zu überzeugen, dieses „Teufelszeug" zu nehmen - man befürchtete, sich mit den Geräten Spio­nage und Arbeitsplatzvernichtung ins Haus zu holen.

Die Schule ist als Verein organisiert und von staatlicher Förderung komplett unabhängig. Das Budget stammt aus dem Schulgeld, das die Schüler jeden ­Monat bezahlen. Im Moment sind das 160 Euro, für die man auch Schüler-Bafög beantragen kann. Davon erhalten die Lehrer 12,50 Euro für jede Stunde, die sie unterrichten. Verglichen mit dem Gehalt an Regelschulen ist das wenig. Und so haben die meisten Lehrer noch einen Zweitjob. Trappmann findet das gut, weil er und seine Kollegen dadurch nicht nur in der Schule steckten und ihr Blickwinkel sich nicht so verenge.

Er sei mit seinen Schülern früher gerne tagelang in den Berliner Museen, Theatern und Kinos unterwegs ­gewesen. Der ganze Tag sei der Kunst gewidmet ­gewesen, die Stadt zum Lernort geworden. Nur so, glaubt er, erreicht man die Schüler: „Wenn man authentisch ist und sich für etwas begeistert, steckt das die Schüler an." Und wer nach zwei Stunden keine Lust mehr gehabt habe, der sei eben nach Hause gegangen.

Aron Hävernick ist 19 Jahre alt und seit zwei Jahren an der SFE. Er erzählt, wie unwohl er sich zuvor an der Regelschule gefühlt habe. Es ging ihm gegen den Strich, dass er tun musste, was die Lehrer sagten - sogar dann, wenn es ihm komplett sinnlos erschien. Die Kritik, die er geäußert habe, sei in der Regel einfach übergangen worden. Für viele Schüler, die an der SFE landen, ist es schon der zweite, dritte oder gar vierte ­Anlauf: An ­ihren früheren Schulen waren sie Außenseiter, fühlten sich von den Lehrern nicht ernst genommen oder herab­gesetzt. Sie fingen an, die Schule zu schwänzen oder brachen sie ab. Einige haben eine Zeit lang auf der ­Straße oder in einem besetzten Haus gelebt, andere kommen aus zerrütteten Familienverhältnissen. An der SFE wird jeder so angenommen wie er ist - dass jemand von der gesellschaftlichen Norm abweicht, ist hier normal. Auch andere Zugangshürden bestehen nicht, man muss weder einen Hauptschulabschluss vorweisen noch gibt es eine Altersbeschränkung.

Aron Hävernick geht gerne an die SFE, auch wenn er sich anfangs an die vielen Freiheiten gewöhnen musste. Aber gerade deswegen fühle er sich hier „mehr als Mensch anerkannt", sagt er, es gefalle ihm, dass er mitbestimmen könne, was und wie er lernt. Philosophie zum Beispiel. Dass es eigentlich keinen Philosophie- Unterricht an der Schule gibt, ist kein Problem: Einige Schüler haben eine Philo-AG gegründet, jemand kannte einen Philosophie-Studenten, und nun lesen sie gerade mit dessen Unterstützung gemeinsam Kants „Kritik der reinen Vernunft". Ihre Prüfungen werden sie wie alle Schüler der SFE vor staatlichen Prüfungskommissionen ablegen. Rund 70 Prozent der SFE-Schüler bestehen ­diese externen Abitur-Prüfungen, im Mittleren Schulabschluss (MSA) sind es 80 bis 90 Prozent.

Für den Berliner Regisseur Alexander Kleider, der 1998 aus der süddeutschen Provinz an die SFE kam, war es eine „Offenbarung" zu erleben, dass Schule so sein kann: selbstbestimmt, gleichberechtigt, angstfrei. Fast 20 Jahre später begleitet er in seinem Dokumentarfilm „Berlin Rebel High School" sechs junge Erwachsene, die sich an dieser „Hammer-Schule" auf das Abitur vorbereiten. Am 11. Mai kommt der für den Deutschen Filmpreis nominierte Film ins Kino.

Berlin Rebel High School www.sfeberlin.de
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