Herr Özdemir, bis Ende vergangenen Jahres waren Sie Mitarbeiter am Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Berliner Charité. Wie sind Sie von dort zu Tiktok gekommen?
Die Idee kam mir spontan während des ersten Lockdowns im März oder April. Ich habe schon länger überlegt, wie ich Menschen mit meinen Themen erreichen könnte, und Social Media ist für diese Zwecke nun mal unumgänglich. Mein Beruf ist eher wortlastig und hängt von Gesprächen ab. Da Instagram visuell und ursprünglich nicht für Videos ausgerichtet ist, und Youtube sich eher für längere Videos anbietet, habe ich mich für Tiktok entschieden. Die Plattform ist optimal für kurze, knackige Videos mit vielen Infos.
Wie sind die Reaktionen auf Ihre Videos und Ihren Kanal im Allgemeinen?
Viele Jugendliche und Erwachsene freuen sich, dass ich in meinen Videos Themen anspreche, von denen sie in der Schule oder im Aufklärungsunterricht nie gehört haben und die man auch gar nicht besprechen möchte. Ich spreche Themen an, bei denen sich viele gar nicht sicher sind, ob die Infos, die sie online finden, verlässlich sind. In meinen Videos steht aber jemand, der Psychologe ist, als Sexualtherapeut arbeitet und die Hard Facts liefert.
Sie interagieren viel mit jungen Menschen. Wie gehen Jugendliche heute mit dem Thema Sexualität um?
Ich bin immer wieder überrascht, wie offen junge Menschen damit umgehen. Ich bekomme viele Nachrichten und finde es aus beruflicher Sicht toll, dass ich einen vertrauensvollen Eindruck erwecke. Andererseits überrascht es mich, dass man einer wildfremden Person gleich sehr viele Details von sich, seinem Körper, dem Sexualleben oder der Partnerschaft anvertraut.
Wissen Sie, wie Sexualaufklärung abseits des Internets heute abläuft?
In den Schulen ist der Unterricht immer noch auf die Hetero-Mehrheit ausgerichtet. Das mag statistisch betrachtet zwar verständlich sein, führt aber dazu, dass sich einzelne Menschen nicht gesehen fühlen. Sexualaufklärung in Schulen konzentriert sich stark auf Krankheiten, das Kondom, die Pille, Menstruationsprodukte und vaginalen Geschlechtsverkehr. Ich denke, mein Tiktok-Kanal kommt auch deshalb so gut an, weil viele Lehrerinnen und Lehrer gar nicht auf das Thema spezialisiert sind.
Was werden Sie am häufigsten gefragt?
„Bin ich normal?“, ist mit Abstand die häufigste Frage. Die Menschen fragen sich, ob sie hinsichtlich sexueller Phantasien, sexuellem Verhalten, anatomisch oder in der Partnerschaft der Norm entsprechen. Ich kann und darf über Social Media niemanden beraten oder eine Diagnose stellen, aber abgesehen davon wissen wir auch gar nicht, was denn eigentlich „normal“ sein soll.
Welche Themen beschäftigen die Jugendlichen besonders?
Mein Video über die Tiefe einer durchschnittlichen Vagina ist das mit den meisten Klicks. Im Unterricht wird nicht gelehrt, dass eine Vagina sich in Länge und Breite zwar anpassen kann, aber durchschnittlich etwa zehn Zentimeter tief ist. Das bedeutet gleichzeitig, dass ein Penis, der 25 Zentimeter lang ist, nicht automatisch so viel „bringt“. Viele Jungen und Männer sind aber trotzdem unsicher, was die eigene Penislänge betrifft. Ich schätze, deshalb ist mein Video über die Länge eines durchschnittlichen Penis das Video mit den zweitmeisten Klicks. Der Durchschnitt liegt übrigens bei 13,12 Zentimetern im erigierten Zustand.
Warum sind Jugendliche nach wie vor so unsicher, obwohl sich ja die Präsenz von Sex in der Öffentlichkeit so verändert hat?
Die Adoleszenz ist eine Zeit des Umbruchs, in der alles unsicher ist. Das ist ein Faktor, der die Unsicherheit, verstärkt, die wir sowieso alle auch unabhängig von unserem Alter erleben. Denn wir alle vergleichen uns – und das macht eben unsicher. Das ist eine Form der Angst davor, dass man anders sein und dafür durch andere abgewertet werden könnte – und niemand möchte ausgeschlossen werden.
Aktuelle Zahlen zeigen, dass Jugendliche immer später ihr erstes Mal haben. Woran liegt das?
Die Zahlen zeigen, dass Jugendliche heute nicht mit jüngerem Alter ihren ersten Geschlechtsverkehr haben – aber eben auch nicht viel später. Das Durchschnittsalter scheint konstant zu bleiben. Ich kann über die Gründe nur spekulieren. Manche fühlen sich vorher nicht reif genug, andere müssen erst einmal lernen, mit ihrem eigenen Körper zufrieden zu sein, bevor sie ihn einer anderen Person zeigen, und wieder andere warten auf die erste große erwiderte Liebe. Ich gehe davon aus, dass unterschiedliche Gründe zu diesem Phänomen führen.
Apps wie Tiktok oder Instagram können einen negativen Einfluss auf die Zufriedenheit und die Wahrnehmung unseres Körpers haben. Wie schätzen Sie die Gefahren für Jugendliche ein?
Die Apps sind, genau wie Pornos, weder gut noch schlecht, aber der Umgang damit kann problematisch sein. Wenn ich also auf Social Media lediglich Menschen folge, die aussehen wie Models, bombastische Wohnungen haben, tolle Urlaube machen, erfolgreich im Beruf sind und dennoch Zeit finden, fünf Mal pro Woche Sport zu machen, kann mich das nur negativ beeinflussen. Das alles zusammen funktioniert ja total selten. Dadurch wird gleichzeitig auch das Schönheitsideal verschoben, weil die Repräsentation von unterschiedlichen, nicht-weißen Menschen fehlt. Deshalb war ich auch motiviert, auf Social Media präsent zu sein. Ich wollte zeigen: Hey, es gibt auch Menschen mit Migrationshintergrund, die studiert haben und sich mit wichtigen Tabuthemen beschäftigten.